Nora Morgenroth: Die Gabe
vielleicht niemals erfahren würden, was mit ihrem einzigen Kind geschehen war. Wann immer ich ihre Nähe spürte, erneuerte ich mein Versprechen, sie nicht im Stich zu lassen. Ich würde dafür sorgen, dass ihre Eltern erfuhren, was geschehen war. Doch in Wirklichkeit wusste ich nicht, was ich tun sollte. Immer wieder wälzte ich in Gedanken die Möglichkeiten durch. Das Buch dem Kriminalhauptkommissar bringen? Und dann, was sollte ich ihm dann sagen ? Vielleicht: Sehen Sie mal, da sind die Fingerabdrücke von dem Mann drauf, von dem ich geträumt habe. Das können Sie jetzt mal mit Ihren Akten abgleichen!
Die Polizei durfte ohne Verdacht nicht einfach die Fingerabdrücke eines unbescholtenen Bürgers mit denen eines Tatortes vergleichen, das hatte er mir ja erklärt. Zumal nicht einmal sicher war, dass überhaupt ein Verbrechen begangen worden war. Ohne einen konkreten Hinweis, der John van der Brelie und Yasmine Abassian überhaupt miteinander in Verbindung brachte, würde gar nichts geschehen. Auf den Polizeibeamten namens Oliver Lüdke setzte ich keine Hoffnung mehr. Ich hätte nichts dagegen gehabt, ihn wiederzusehen, doch wozu und unter welchem Vorwand? Es war alles vollkommen aussichtslos.
Inzwischen war es frühlingshaft und wärmer geworden, der Winter hatte sich endlich verzogen. Dank Sybille nahm ich wieder am Leben außerhalb meiner vier Wände teil. Wir gingen zusammen aus und ich fing an, mich nach anderen Männern umzusehen. Allerdings war mir noch keiner begegnet, der es mir wert gewesen wäre, ihn auch nur ein zweites Mal zu treffen. Immerhin hatte ich mich damit abgefunden, dass ich geschieden war und die Zeit mit Daniel unwiderruflich vorbei war. Ich richtete mich in meinem neuen Leben ein. Dieses neue Leben spielte sich gewissermaßen zwischen den Welten ab, doch diese Tatsache ängstigte mich nicht mehr und ich fürchtete auch nicht mehr um meinen Verstand. Alles, was geschah, was ich hörte und sah und fühlte, behielt ich für mich. Ich sprach mit niemandem darüber und war mir nicht sicher, ob ich das jemals tun würde. Eigentlich ging es mir soweit ganz gut, wenn ich nicht immer noch damit gehadert hätte, dass John van der Brelie frei herumlief. Wenn man den Medien glauben konnte, würde er in wenigen Wochen aller Voraussicht nach zum neuen Vallauer Oberbürgermeister gewählt werden.
An einem Freitagabend, es war Anfang April, kehrte ich spät aus Vallau zurück. Ich hatte Hedda besucht, die am vergangenen Wochenende umgezogen war. Das Haus war verkauft. Die andere Neuigkeit, mit der sie mich überraschte: Meine Schwester hatte einen Mann kennengelernt, mit dem sie sich regelmäßig traf. Ich war erst erstaunt gewesen, Aber dann dachte ich, dass Marc wahrscheinlich einverstanden wäre. Seit dem Krankenhaus hatte ich seine Nähe nicht mehr gespürt. Vielleicht bedeutete gerade die Abwesenheit eines Zeichens, dass es gut so war, wie es war. Es gab keinen Grund mehr für ihn, sich in unserer Welt aufzuhalten.
Und ich begriff noch etwas: Je besser es mir ging, umso seltener kamen mein Vater und meine Großmutter. Es war allein die Sorge um mich gewesen, die sie in meine Nähe gezogen hatte. Ich hatte nun die Gewissheit, dass sie zu mir sprechen würden, wenn ich sie brauchte.
Dennoch waren sie eben keine Schutzengel, die wie in einem Film durchsichtig über einem schwebten und eingriffen, wenn der Heldin Gefahr drohte. Sie schleuderten keinen kosmischen Blitz und sie stießen auch keinen Warnruf aus. Ich sah den Mann nicht kommen und niemand gab mir ein Zeichen.
Ich hatte den Wagen wie gewohnt vor dem Haus geparkt. Es war spät geworden, ich war müde und freute mich auf mein Bett. Ich stieg aus, warf mir die Tasche über die Schulter und stieß die Fahrertür zu. In diesem Moment traf mich etwas schwer und schmerzhaft in den Rücken. Der Schlag war so heftig, dass ich stolperte. „Hey“, rief ich aus, mehr empört als erschrocken. Eine schwarze Handschuhhand kam von hinten und drückte sich auf meinen Mund. Das Gewicht eines schweren Körpers presste mich an das Auto. Vor Schreck und Entsetzen keuchte ich auf.
Oh Gott, jetzt passiert es, jetzt passiert das, wovor ich immer Angst hatte, wovor jede Frau Angst hat, o h bitte, nein, nicht jetzt, nicht ich, ich will nicht. Yasmine, hilf mir, irgendjemand, hilf mir!
Schreien war unmöglich, ich kämpfte durch das glatte Leder hindurch um jeden Luftzug. Die Hand drückte nicht nur den Mund, sondern auch meine Nase halb zu. Ich riss die
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