Nora Roberts
legte
auf und warf das Telefon zurück aufs Bett. »Wird nicht lange dauern. Hör zu,
ich würde mich gern etwas frisch machen.« Er wühlte in einer Umzugskiste herum
und zog etwas heraus, das wie eine saubere Jeans aussah. »Ich werde mich mal
kurz unter die Dusche stellen. Lauf nicht weg, okay? Ich bin gleich wieder da.«
»Darf ich
mir einige deiner anderen Bilder ansehen?«
»Klar.« Er
vollführte eine einladende Geste in den Raum hinein und marschierte dann mit
seinem Bier in der Hand ins Bad. »Nur zu.«
Und mit
einem Mal schien der Bruch zwischen ihnen gekittet. Lauf nicht weg, hatte er
gesagt. War es da ein Wunder, dass es Dru so vorkam, als seien sie Freunde?
Ganz gleich, was zwischen ihnen auch geschehen oder nicht geschehen würde, sie
waren Freunde.
Dennoch
wartete Dru, bis er die Badezimmertür ge schlossen hatte und sie das Wasser
der Dusche laufen hörte, bevor sie zu einer weiteren Staffelei hinüberging,
die vor den vorderen Fenstern stand.
Der
Anblick, der sich ihr bot, verschlug ihr den Atem. Wahrscheinlich handelt es
sich um eine typische Reaktion von jemandem, der sich selbst zum ersten Mal auf
einer Leinwand erblickt, dachte sie. Sie hätte sich niemals so gesehen. Nicht
so romantisch und entspannt und erotisch zugleich. Die Farben ließen sie
verwegen erscheinen, das Licht verträumt, und die Pose mit ihren nackten Beinen
und dem scheinbar nachlässig drapierten leuchtenden Rock wirkte sehr erotisch.
Sie hatte
eine ungeheure Ausstrahlung, sogar während sie ruhte.
Er hatte
das Bild also beendet. Es musste fertig sein, denn es war perfekt. Und
wunderschön.
In seinen
Augen war sie schön. Begehrenswert, konnte man wohl sagen und dabei immer noch
unnahbar, denn es war überaus deutlich, dass sie allein war – und auch allein
sein wollte.
Sie hatte
ihm gesagt, dass sie ihn nicht gut kennen würde. Und nun begriff sie mehr als
jemals zuvor, wie sehr das der Wahrheit entsprach. Aber wie konnte ihn nur
irgendjemand wirklich kennen? Wie konnte irgendjemand einen Mann verstehen,
der so viel in sich trug, der fähig war, etwas so Schönes und Verträumtes auf
die eine Leinwand zu bannen, und etwas so Leidenschaftliches und Grimmiges auf
die andere?
Und dennoch
– je mehr Dru über Seth erfuhr, desto mehr wollte sie über ihn wissen.
Sie ging zu
den Leinwänden hinüber, die hintereinander an der Wand lehnten, setzte sich
auf den Boden, stellte ihr Bier zur Seite und betrachtete die Bilder.
Sonnendurchtränkte
Schauplätze, die Florenz mit seinen roten
Ziegeldächern, seinen goldenen Gebäuden und seinen verwinkelten Gassen zeigten.
Dann ein Durcheinander aus Farben und Bewegung und Menschenmengen das musste
wohl Venedig sein.
Eine leere
Straße, die sich durch leuchtend grüne Felder wand. Der Akt einer Frau mit
dunklen, schläfrigen Augen. Ihr Gesicht und die Schultern waren von ihrer ungezähmten
Haarpracht umrahmt, und durch das Fenster hinter ihr erblickte man die
Herrlichkeit Roms.
Ein Feld
mit Sonnenblumen an einem sonnigen Tag, dessen Hitze beinahe spürbar war – und
das lachende Gesicht eines jungen Mädchens, das durch das Feld lief und einen
roten Luftballon hinter sich herzog.
Dru sah
Freude und romantischen Zauber, Kummer und Launenhaftigkeit, Verlangen und
Verzweiflung.
Nein, er sieht all das, verbesserte sie sich, er sieht einfach alles.
Als er
zurückkam, saß sie auf dem Boden, ein Gemälde auf dem Schoß. Das Bier stand
unberührt neben ihr.
Er kam zu
ihr herüber und hob die Flasche auf. »Wie wäre es stattdessen mit einem Wein?«
»Lass nur.«
Sie vermochte ihren Blick einfach nicht von dem Bild zu lösen.
Es war ein
Aquarell, das er an einem verregneten Tag in Italien aus der Erinnerung gemalt
hatte. Er hatte Heimweh gehabt und eine innere Unruhe verspürt.
Also hatte
er den Sumpf mit seinem Gewirr aus Gummibäumen und Eichen, aus Meeressalde und
Lieschkolben und mit dem in der Dämmerung gefangenen, fluoreszierenden Licht
gemalt, den er als Junge erkundet hatte.
»Die Stelle
ist nicht weit von unserem Haus entfernt«, erklärte er ihr. Er wies auf das
Bild. »Du kannst diesem Pfad bis dahin folgen.« Genau das hatte er wohl auch in
Gedanken getan, als er es malte.
»Würdest du
es mir verkaufen?«
»Wenn du
weiter hier heraufkommst, brauche ich gar keinen Agenten mehr.« Er setzte sich
neben sie. »Warum gerade dieses Bild?«
»Ich möchte
gern dort spazieren gehen, durch diesen Nebel. Zusehen, wie er über dem Wasser
aufsteigt, während die Sonne
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