Nora Roberts
anvertraut, dass er noch niemals für seine Kunst gelitten hatte, aber da
hatte er sich getäuscht. Alles, was einen Menschen derart vereinnahmte, ging
mit seelischem Schmerz einher.
Als er von
der Leinwand zurücktrat, schien er auf das Bild, das er geschaffen hatte, zu
starren, als sei es gerade aus dem Nichts aufgetaucht. Die Hand, die den Pinsel
hielt, fiel schlaff an seiner Seite herab. Er nahm den anderen, den er sich
zwischen die Zähne geklemmt hatte und legte ihn beiseite. Dann rieb er sich –
geistesabwesend, wie es schien – über die Muskeln seines rechten Arms und
öffnete und schloss einige Male seine rechte Hand.
Dru machte
einen behutsamen Schritt zurück, doch in diesem Moment drehte er sich um und
blickte sie an. Er sah aus, als er soeben aus einer Trance erwacht. Er schien
erschöpft zu sein, ein wenig verstört und schrecklich verletzbar.
Da sie ihre
Gelegenheit verpasst hatte, unbemerkt zu verschwinden, tat Dru das Einzige, was
ihr einfiel. Sie trat ins Zimmer, ging auf das Stereogerät zu und drehte die
Musik leiser.
»Es tut mir
Leid. Du hast nicht auf mein Klopfen reagiert.« Sie schaute nicht auf die
Leinwand, hatte irgendwie Angst vor dem, was sie dort sehen könnte.
Stattdessen blickte sie
ihn an. »Ich habe dich bei deiner Arbeit unterbrochen.«
»Nein.« Er
strich sich die Haarsträhnen zurück, die ihm in die Stirn gefallen waren. »Ich
denke, das Bild ist fertig.«
Er hoffte
es jedenfalls, denn er fühlte sich wie ausgelaugt, hatte ihm nichts mehr zu
geben. Seine Kunst hatte ihm wieder einmal geholfen, sich von allem zu
befreien, was ihn bedrückte.
Er ging zum
Arbeitstisch, um die Pinsel zu reinigen. »Was hältst du davon?«, fragte er und
nickte zu der Leinwand hinüber.
Sie sah hin
und erblickte einen Sturm auf dem Meer. Brutal, grausam und irgendwie
ausgesprochen lebendig. Die Farben waren furchtbar düster – Blau- und Grüntöne,
Grau in allen Schattierungen, jähzorniges Gelb, vereint zu schmerzhaften
Blutergüssen.
Regen
peitschte auf die Wasseroberfläche, Blitze zuckten vom stürmischen Himmel
herab. Inmitten der bedrohlichen Wolken entdeckte Dru Gesichter, die kaum mehr
waren als gespenstische Schatten. Und als sie fasziniert näher trat, bemerkte
sie weitere Gesichter im Wasser.
Sie sah ein
Boot und einen Mann, ganz allein im Kampf gegen die Naturgewalten. Sie konnte
den Wind schreien hören, spürte die panische Angst eines Mannes, der einen
verzweifelten Kampf führte, um sein Boot davor zu bewahren, von den turmhohen
Wellen verschluckt zu werden. In der Ferne erahnte man Land und Licht. Dort
war ein kleines Stück blauer Himmel, dort war sein Zuhause.
Der Mann
kämpfte darum, heimzukommen.
»Es ist
sehr ausdrucksvoll«, brachte Dru hervor. »Und schmerzhaft. Du zeigst das
Gesicht des Mannes nicht, und ich frage mich, ob ich darauf wohl Verzweiflung
oder Entschlossenheit sehen würde, Aufregung oder Angst. Aber das ist ja wohl
genau deine Absicht, nicht wahr? Du zeigst sein Gesicht
nicht, damit der Betrachter hinschaut und darüber nachdenkt, was er an seiner
Stelle empfinden würde, wenn er allein gegen seine Dämonen kämpfen müsste.«
»Fragst du
dich denn gar nicht, ob er gewinnen wird?«
»Ich weiß,
dass er gewinnen wird, denn er muss ja nach Hause. Dort warten sie auf ihn.«
Dru blickte zu Seth hinüber. Er war immer noch in das Bild vertieft und rieb
sich mit seiner linken Hand über die rechte.
»Alles in
Ordnung?«
»Was?« Er
sah sie an und schaute dann auf seine Hände. »Oh. Ja. Sie verkrampft sich
manchmal, wenn ich zu lange gearbeitet habe.«
»Wie lange
hast du dafür gebraucht?«
»Keine
Ahnung. Welcher Tag ist heute?«
»So lange
also. Dann könnte ich mir vorstellen, dass du jetzt gern nach Hause fahren und
dich ausruhen würdest.« Sie hob die Vase mit den Blumen in die Höhe, die sie neben
dem Stereogerät abgestellt hatte. »Ich habe dir diesen Strauß zusammengestellt,
bevor ich heute Abend den Laden zugemacht habe.« Sie hielt ihm die Blumen hin.
»Ein Friedensangebot.«
Es war eine
farbenfrohe Mischung aus verschiedenen Blüten in einer niedrigen blauen Vase.
»Danke. Das ist sehr nett von dir.«
»Ich bin
mir nicht sicher, ob ich enttäuscht oder erleichtert sein soll, dass du dich
nicht in den letzten Tagen hier verbarrikadiert hast, um über unsere
Meinungsverschiedenheit zu brüten.«
Er
schnupperte an den Blumen. Irgendetwas in dem Strauß roch ein wenig nach
Vanille. »Hatten wir eine
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