Noras großer Traum (German Edition)
später den Telefonhörer in der Hand hielt und dem Freizeichen lauschte, war ihr unbehaglich zumute. Max meldete sich nach dem fünften Klingeln und schien sich sehr zu freuen, als er ihre Stimme hörte. »Hallo, mein Liebling. Wie sieht es aus?«
»Ganz gut, ich mache Fortschritte. Wie geht’s den Kindern und meinen Eltern?«
»Alle, mich eingeschlossen, haben Sehnsucht nach dir.«
Nora zögerte kurz, denn sie hatte jetzt zum ersten Mal das Gefühl, ihren Mann wirklich zu hintergehen.
»Du, Max, ich scheine es endlich geschafft zu haben. Am Wochenende darf ich den Heimflug antreten.«
»Das ist eine tolle Nachricht, Nora. Die Kinder werden ausflippen.« Er machte eine kleine Pause. Es irritierte ihn, dass sie nichts sagte. »Schatz? Ist alles in Ordnung? Soll ich dich vielleicht abholen, damit wir zusammen fliegen können?«
Nora hatte auf ihrer Unterlippe gekaut, doch nun beeilte sie sich mit der Antwort.
»Nein, nein, Max, ich schaffe das schon. Denk doch nur daran, was der Flug kosten würde. Davon können wir ja mit der ganzen Familie Urlaub machen. Du, hier möchte noch jemand ans Telefon. Ich melde mich wieder, sobald ich die Flugzeiten habe, okay?«
»Okay, Nora. Pass auf dich auf, ja? Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich auch.«
Auf dem Weg zu ihrer Station hallten diese Worte in ihr nach. Sie waren ganz selbstverständlich über ihre Lippen gekommen. Nora dachte nach. Liebte sie Max wirklich noch, oder waren ihre Gefühle für ihn mittlerweile in dem täglichen Alltagsbrei, dem sie beide ständig ausgesetzt gewesen waren, erstickt? Erschrocken über die Ernsthaftigkeit, mit der sie sich diese Frage stellte, blieb sie vor einem Fenster stehen und sah hinaus. Nie im Leben hätte sie sich vorstellen können, einmal an diesem Punkt in ihrer Ehe anzukommen.
Ihre Gedanken wanderten zurück. Sie sah sich lachend neben Max, wie sie beide versuchten, am Polterabend der vielen Scherben Herr zu werden. Sie erinnerte sich an endlose Abende, die sie gemeinsam über den Bauzeichnungen für ihr Haus verbracht und sich übermütig über die Zahl der Kinderzimmer gestritten hatten. Dann die Schwangerschaften, in denen Max der liebevollste Partner gewesen war, den man sich denken konnte. Gemeinsam hatten sie die Kurse in Säuglingspflege und Schwangerschaftsgymnastik besucht. Schmunzelnd erinnerte Nora sich daran, wie die Kinderschwester Max nach dem Baden der Babypuppe ironisch gelobt hatte: »Sehr schön, Herr Bergmann, Ihr Kind wäre jetzt zwar sauber, aber ertrunken. Haben Sie denn gar nicht bemerkt, dass es mit dem Gesicht im Wasser lag?« Während der Entbindungen war er beide Male an ihrer Seite gewesen. Bei den Presswehen, die Niklas ins Leben geholfen hatten, hatte sie seine Hand so sehr zusammengedrückt, dass sie ganz blau geworden war. Nachdem Marie auf der Welt war, hatte er sogar die Nabelschnur durchtrennen dürfen, die Mutter und Tochter miteinander verbunden hatte.
Viele Stationen ihres Familienlebens zogen an ihr vorüber. Ihr wurde klar, dass sie nie aufgehört hatte, Max zu lieben. Dennoch waren sie sich nach dem Tod ihrer Freundin fremd geworden. Er war ihr manchmal so herzlos und geschäftsmäßig vorgekommen. Wahrscheinlich hatte diese Tatsache das Entstehen ihrer Gefühle für Tom begünstigt, aber Nora suchte dafür keine Ausflüchte. Sie war sich sicher, dass ihre Beziehung zu Tom einfach Schicksal gewesen war, weder geplant noch beabsichtigt oder auf irgendeine Weise wirklich verwerflich. Er war etwas ganz Besonderes in ihrem Leben und würde immer einen Platz in ihrem Herzen haben. Nora seufzte leise. Diese Urgewalt von Liebe, die sie und Tom hier in Australien erlebten, ließ sich natürlich nicht mit ihrem alltäglichen Leben in Deutschland vergleichen. Dennoch stellte sie für sich fest, dass sie nach wie vor mit jeder Faser ihres Herzens an ihren Kindern, aber auch an Max hing. Sie straffte die Schultern. Wenn es nicht so wäre, hätte sie schließlich auch hier bei Tom bleiben können. Traurig darüber, dass es offenbar keinen unbeschwerten Weg aus diesem Dilemma gab, lehnte Nora den Kopf gegen die Fensterscheibe und betrachtete die Rasenfläche unter sich. Ein paar Vögel pickten unter einigen Büschen, die den Rasen vom Fußweg trennten.
»Ach, hier bist du. Ich hab dich schon überall gesucht.«
Nora zuckte zusammen und hatte Schwierigkeiten, aus ihren Gedanken in die Wirklichkeit zurückzufinden. Tom hatte einen Arm um sie gelegt und ihr einen Kuss auf die Wange gedrückt.
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