Noras großer Traum (German Edition)
befanden, an einer Stelle, praktisch in der Mitte des australischen Kontinents, vor diesem Monolithen, den es schon vor etwa fünfhundert Millionen Jahren gegeben hatte. Nora flößte diese Tatsache so etwas wie Ehrfurcht ein. Ähnlich empfand sie auch immer, wenn sie den Sternenhimmel betrachtete. Man war als Mensch so klein und unbedeutend vor den zeitlichen Urgewalten solcher Naturdenkmäler. Und doch glaubten so viele, sie hätten diesen Berg »bezwungen«, wenn sie an der Kette einmal hinauf- und wieder hinuntergeklettert waren und unten johlend von ihren Reisebus-Gefährten in Empfang genommen wurden.
Nora schob den Unmut, der schon wieder in ihr aufstieg, beiseite. Sie wollte sich diesen Augenblick ihres Lebens hier nicht verderben lassen, sie wollte nur die Atmosphäre, die diesen Ort umgab, in sich aufnehmen, um sich später immer daran erinnern zu können. Sie registrierte jede Einzelheit, war erstaunt, dass der Uluru, wenn man ihn aus der Nähe betrachtete, viel mehr Narben und Ausbuchtungen hatte, als man es von Bildern her kannte. Sie dachte plötzlich an das Kalenderbild, das zu Hause an der Wand hing, und wieder versuchte sie sich klar zu machen, dass sie nun in Wirklichkeit am selben Ort war. Verblüfft stellte sie fest, dass sich auch auf seinen felsigen Ausläufern Grasflächen befanden, ja sogar kleine Büsche oder Bäume wuchsen. Immer wieder blieben sie stehen, um den Monolithen erneut aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Schließlich zupfte Martin sie am Ärmel.
»Nora? Lass uns zum Wagen zurückgehen und zu einem der markierten Aussichtspunkte fahren. Ich hoffe auf ein paar gute Fotos.«
Sie nickte und gemeinsam gingen sie zum Parkplatz zurück, um sich einen guten Standort für den Sonnenuntergang zu suchen, wie hunderte der anderen Besucher auch.
Nachdem sie sich entschieden hatten, wo sie auf dieses Ereignis warten wollten, half Nora Martin dabei, die Ausrüstung zu tragen. Sie war froh, sich ein wenig damit ablenken zu können, denn sie verspürte eine solche Aufregung, dass sie sich fast dafür schämte. Die vielen Leute um sie herum ließen das Ganze jedoch weniger ruhig und ehrfürchtig werden, als sie es nach den ersten Schritten am Fuße des Berges erwartet hatte. Dennoch konnten sie nun bei klarem Himmel dieses einzigartige Naturschauspiel in all seinen ungewöhnlichen Farbschattierungen beobachten. Die Sonne ließ den zuvor noch in Goldtönen liegenden Uluru mittlerweile in den von Fotokalendern so bekannten brandroten Farben leuchten, was ihm vor dem in bleigrauen bis blauen Tönen liegenden Himmel eine nahezu unwirkliche Ausstrahlung verlieh.
Neben Nora betrachtete Martin den scheinbar glühenden, imposanten Berg durch seine Objektive ernst und konzentriert. Das Surren seiner Fotokamera verriet ihr, dass er bei der Arbeit war. Als der Berg sich schließlich immer weiter verdunkelte und in einem tiefen Violett mit dem Abendhimmel verschmolz, wurde es Zeit, an die Heimfahrt zu denken. Ruhig machten sie sich daran, zusammenzupacken und die Ausrüstung im Wagen zu verstauen. Martin setzte sich hinter das Steuer; er spürte, dass Nora lieber jeden noch möglichen Blick dem Uluru schenken würde, als auf die Straße zu achten. Außerdem gefiel es ihm, sie in ihren Empfindungen zu beobachten. Manchmal hatte er bereits das Gefühl, in ihr lesen zu können wie in dem sprichwörtlich offenen Buch. Er mochte ihre Art, diesen Kontinent zu entdecken, und ließ sich nur zu gerne von ihrer Begeisterung anstecken, die diese Reise auch für ihn um vieles interessanter machte als vorangegangene Fotoreportagen. Nach einer Weile des Schweigens sah er sie von der Seite an. In der fast vollständigen Dunkelheit konnte er ihr Gesicht nicht mehr klar erkennen.
»Na, hat er gehalten, was er dir versprochen hat, Nora?«
Sie lehnte den Kopf gegen die Nackenstütze und schien zu überlegen.
»Ja, ich meine doch. Und ich bin so dankbar, dass wir gleich bei unserem ersten Besuch das Glück hatten, diesen Sonnenuntergang sehen zu dürfen.« Sie seufzte zufrieden, bevor sie Martin musterte.
»Und du? Was hast du gedacht, als wir dort ankamen? War es für dich auch noch etwas Besonderes?«
Martin konnte sich ein belustigtes Lächeln nicht verkneifen.
»Kann es sein, Nora, dass du mich in den Tiefen deiner Seele für einen abgebrühten Kulturbanausen hältst?«
Sie lachte ein wenig in sich hinein.
»Entschuldige, Martin. Aber vielleicht vermag ich mir einfach nicht vorzustellen, dass man noch
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