Noras großer Traum (German Edition)
bedauernd mit den Schultern zuckte. In seinem ganzen bisherigen Leben hatte er noch nie über diesen Punkt nachgedacht. Etwas ratlos hörte er Nora jetzt zu, die den scheinbar endlosen Stuart Highway vor sich betrachtete.
»Mich ärgert obendrein dieser pseudokulturelle Boom, weißt du? Aber die gleiche Art der Oberflächlichkeit gibt es ja auch in den meisten anderen Ländern, ich nehme uns da gar nicht aus. Die angebotenen Pauschaltrips, die dann auch stets ein bisschen ›Aborigines-Kultur‹ beinhalten. Häufig ist es bloß der Blick auf für Touristen tanzende Ureinwohner. Die Arroganz der Besucher, die dahintersteckt, stößt mich ab. Oft finden sich hier doch nur gelangweilte Japaner, Europäer oder Amerikaner ein, die glauben, mit einer Reise zu den Aborigines ihren ganz persönlichen spirituellen Kick ausleben zu können. Leider reicht ihr offen bekundetes Interesse für diese uralte Kultur aber meist nicht im Entferntesten für den Respekt aus, auf die Besteigung des heiligen Bergs zu verzichten.«
Martin war verblüfft. So verbittert hatte er Nora bisher noch nicht erlebt.
»He, Nora, was ist denn los? Meinst du nicht, dass du jetzt auch ein wenig arrogant bist, indem du dich über diese Leute stellst?«
Sie fuhr sich über die Stirn. »Vielleicht. Aber ich finde, man sollte sich in einem fremden Land anpassen. Es sollte jedem wichtig sein, einen guten Eindruck in dem Land zu hinterlassen, in dem man nur Gast ist.«
Nora legte Martin eine Hand auf den Arm und schüttelte nun leicht den Kopf. »Tut mir Leid, Martin. Ich weiß auch nicht, was gerade mit mir los ist. Manchmal habe ich das Gefühl, dass mich die Eindrücke hier überrollen. Aber mal ehrlich, sind dir auf unserer Reise hier viele Aborigines aufgefallen, die einen ganz normalen Platz in der australischen Gesellschaft einnehmen? Beim Bäcker, in der Bank, als Handwerker, in der Kirche oder so? Nein! Als Außenstehende empfinde ich es so, als gehörten sie einfach nicht dazu. Auch wenn die Weißen behaupten, dass die Ureinwohner nur nehmen und nicht geben, dass sie jammern, aber nichts dazu beitragen, dass es besser werden kann – es bleibt doch eine Tatsache, dass den Aborigines zuerst das Land und durch die moderne Zivilisation auch weitgehend ihre Kultur, ihr seelischer Friede genommen wurde, sei es durch Krankheiten, gegen die ihr Immunsystem keine Chance hatte, oder durch Unterdrückung und Verfolgung oder Alkohol und Drogen. Und nun gibt es endlich kleinere Gruppen der Aborigines, die sich wieder auf ihre kulturellen Wurzeln und ihre Kunst besinnen, und sofort müssen sie sich vor windigen Managern in Acht nehmen, die diese Entwicklung gleich versuchen für ihre Zwecke auszuschlachten.« Nora schüttelte erneut den Kopf. »Entschuldige, Martin. Ich bin heute wohl ziemlich anstrengend, was? Wie wär’s mit einer Pause? Vielleicht sollten wir uns mal ein bisschen die Beine vertreten, was meinst du?«
Er zog die Augenbrauen hoch und betrachtete die trockene Ebene. »Hier?«
Nora nickte. »Warum denn nicht? Zu den Bus-Parkplätzen kommen wir noch früh genug.«
Martin lenkte den Wagen von der geteerten Fahrbahn des Highways und hielt an. Ohne zu zögern stieg Nora aus und legte die Arme auf das Autodach, um wieder einmal ungläubig das Ausmaß dieser flachen Weite in sich aufzunehmen. Die rote Erde wurde hier zum Teil durch unzählige Spinifexgrasbüschel und niedrige Büsche verdeckt, in einiger Entfernung von der Straße standen auch wieder die vertrauten Mulga-Akazien, und vereinzelt konnte Nora kleinere Eukalyptusbäume erkennen, so genannte Geistereukalypten, deren schneeweiße Rinde die Bäume vor der sengenden Sonne schützte. Martin hatte sich routinemäßig eine Kamera gegriffen und machte einige Schritte vom Wagen weg, der auf dem staubigen roten Seitenstreifen stand. Nora ging in die Hocke und ließ sich den roten Sand durch die Finger rieseln. Als sie sich wieder aufrichtete, sah sie, dass Martin zwischen den Büschen umherging und dann und wann prüfend durch seine Kamera schaute, offenbar auf der Suche nach einem lohnenden Motiv. Während Nora sich langsam einmal um die eigene Achse drehte, um diesen Rundblick bewusst wahrzunehmen, hörte sie von Martin plötzlich einen unterdrückten Schrei. Schnell bewegte sie sich in seine Richtung.
»Was ist denn los?«
Er kratzte sich verlegen am Kopf. »Ach, ich hab nur den da gesehen.«
Er deutete auf eine merkwürdig stachlig ausschauende Eidechse, die sich seltsam ruckend
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