Noras großer Traum (German Edition)
kümmern, ob und wie er in der Klinik eintraf oder dort aufgenommen wurde. Tom seufzte leise. Nein, Ray war absolut hilflos, nicht einmal in der Lage zu sprechen. Es war das Mindeste, was er für ihn tun konnte, dafür zu sorgen, dass er bestens untergebracht wurde.
Phil beobachtete ihn und bemerkte die steile Falte auf Toms Stirn.
»Was grübelst du denn so, Tom? He, erledige das mit Ray, und dann mach dir einen schönen Tag in Sydney. Ich könnte mir ehrlich Schlimmeres vorstellen.«
Tom nickte langsam. »Wahrscheinlich hast du Recht, Phil.« Er riss sich jetzt aus seiner Nachdenklichkeit und begann zu organisieren.
»Phil, funk bitte die Klinik an. Sie sollen das Antitoxin mit dem Krankenwagen mitschicken, der zum Flughafen kommt. Sag, es sei absolut dringend. Wenn sie Fragen haben, ruf mich. Ich sehe jetzt noch einmal nach Ray, okay?«
Phil streifte sich seine Kopfhörer über und begann den Funkruf an die Klinik zu senden, während Tom sich auf den Weg zu seinem Patienten machte.
Eine knappe Stunde später empfing Sydney sie mit einem strahlend blauen Himmel, für den die Besatzung des Flying Doctor Service jedoch keinen Blick hatte. Phil kümmerte sich nach der Landung sofort darum, dass die Maschine aufgetankt wurde, damit ein schneller Rückflug möglich war. Tom und Kim bereiteten alles für den Transport des Schwerverletzten vor und hielten ungeduldig Ausschau nach dem Krankenwagen, der kurz darauf eintraf und rückwärts an den Ausstieg des RFDS-Flugzeugs heranfuhr, um den Patienten aufzunehmen.
21
D amit ihr weiterer Klinikaufenthalt so kurz wie möglich sein würde, arbeitete Nora verbissen daran, ihre gesundheitlichen Fortschritte voranzutreiben. Es enttäuschte sie maßlos, immer wieder feststellen zu müssen, dass ihr Körper nicht so funktionierte, wie sie es aus der Zeit vor ihrem Unfall gewohnt war. Neben dem Verheilen der Verletzungen sorgten krankengymnastische Übungen und vorsichtige Gehversuche dafür, dass sie ihrem Ziel, nach Hause zu kommen, ein wenig näher rückte. So oft es ging, hatte sie begonnen sich dazu zu zwingen, in Bewegung zu bleiben. Sie hasste die verdammte Hilflosigkeit, ständig auf andere angewiesen zu sein. Jede unbedachte, früher so normale Bewegung aber wurde mit heftigem Schmerz bestraft, und das machte sie wütend. Auch hatte sie Schwierigkeiten, sich an die Gehhilfen zu gewöhnen, mit denen sie zwar vorwärts kam, die ihr aber keine Hand freiließen, um beispielsweise eine Flasche Wasser oder eine Zeitung zu tragen. Selbst der relativ harmlose und inzwischen vollständig verheilte Schlüsselbeinbruch erinnerte sie häufig mit einem heftigen Stich daran, dass sie die Krücken beiseite legen und sich eine Pause gönnen sollte. Es war verhext – die Muskeln und der Kreislauf brauchten die Bewegung, und ihre Knochen wollten Ruhe zum Heilen. Mit eisernem Willen bemühte sie sich, diesen Spagat irgendwie zu bewältigen, empfand aber auf Grund ihrer instabilen Psyche jeden Rückschlag doppelt hart.
Um sich etwas abzulenken und nicht ständig über ihre Situation nachzudenken, hatte sie vor ein paar Tagen damit begonnen, ihre Notizen für die Reportage auszuwerten und zu bearbeiten. Sie hatte nach dem Mittagessen wieder eine Weile daran gesessen und war sehr zufrieden mit den Fortschritten. Wenn sie weiter so gut vorankäme, hätte sie in Deutschland schon einiges in Händen, wenn sie mit Martin die Auswahl der passenden Fotos besprechen würde. Nora stand vorsichtig auf und griff nach ihren Krücken. Es wäre eine gute Übung, wenn sie sich für den Abend noch eine Zeitung vom Krankenhauskiosk in der Eingangshalle holen würde. Sie zögerte kurz. Seit sie hier war, hatte sie noch nie die Station verlassen, aber sie wollte auch nicht erst um Erlaubnis fragen. Entschlossen nahm sie die zweite Krücke und machte sich auf den Weg. Irgendwann musste sie schließlich anfangen, ins normale Leben zurückzukehren. Als sie den scheinbar endlosen Stationsflur hinter sich gebracht hatte und mit dem Fahrstuhl nach unten fuhr, hatte sie nach langer Zeit wieder einmal das Gefühl, nicht mehr halb tot und hilflos zu sein. Als der Lift im Erdgeschoss anhielt und die Türen lautlos zur Seite glitten, humpelte sie in die Halle und ignorierte die erneut einsetzenden Stiche zwischen den Rippen und dem Schlüsselbein. Sie wusste, dass sie es schaffen würde.
Die großzügigen Fenster des Eingangsbereichs gewährten Nora den Blick auf schön bepflanzte Beete und Bänke am Rand einer
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