Noras großer Traum (German Edition)
Sie wollte ihn nicht mehr treffen, schon gar nicht jetzt, da sie so völlig durcheinander war. Auch spürte sie, dass es ihre Situation nur noch mehr verwirren würde. Sie schob jetzt all diese Überlegungen beiseite, dachte ganz fest an Max, Niklas und Marie und machte sich auf den Weg zum Klinikportal. Als sie die Halle durchquert hatte und vor dem Lift wartete, begann sie, sich langsam zu entspannen. Es musste ihr doch gelingen, in diesem riesigen Krankenhaus, in dem es vermutlich jetzt zur Besuchszeit nur so vor Menschen wimmelte, ohne Tom zu treffen auf ihre Station zu gelangen. Die Aufzugtüren glitten zur Seite, und eine kleine Traube Menschen eilte in die große Halle. Nora stützte sich auf ihre Krücken, sah auf – und stand vor Tom. Völlig entsetzt, dass nun genau das eingetreten war, was sie unbedingt verhindern wollte, starrte sie ihn an. Auch Tom schien zunächst sprachlos. Die Menschen um sie herum verließen den Lift, andere stiegen zu. Eine Schwester blockierte nun die Aufzugtür und sah abwartend zu ihnen hinüber.
»Möchten Sie mitfahren?«
Tom schüttelte den Kopf. »Nein, danke.«
Die Türen schlossen sich wieder, und sie standen allein vor dem Aufzug. Tom schaute sie fragend an.
»Wie geht es dir, Nora?« Er lächelte plötzlich und verbesserte sich. »Dumme Frage. Wie ich sehe, bist du ja schon unterwegs.« Er wies auf die Gehhilfen. »Kommst du gut damit klar?«
Sie musste sich zu einem Lächeln zwingen, denn sie war dem Weinen näher als dem Lachen. Irgendwie schien ihr ganzes Leben ständig aufs Neue durcheinander zu geraten. Immer wenn sie einen Anfang gefunden hatte, alles wieder gerade zu rücken, passierte garantiert erneut irgendetwas, das sie aus der Bahn warf. Sie hatte nun genug. Sie war völlig verunsichert und fühlte, dass sie selbst nicht mehr wusste, wie sie sich verhalten sollte. Sie spürte die abwartende Distanz, die von Tom ausging, und hatte dabei die Gewissheit, dass sie letztendlich dafür verantwortlich war. Obwohl beinahe sechs Wochen vergangen waren, seit sie ihn zuletzt gesehen hatte, hätte sie sich jetzt nichts auf der Welt mehr gewünscht, als von ihm umarmt zu werden. Sie hatte Schwierigkeiten, sich zu konzentrieren. Der Schreck hatte sie blass werden lassen. Tom sah sie nun besorgt an.
»Nora, ist dir nicht gut?«
Er wies auf eine kleine Nische mit zwei Sesseln, zwischen denen ein großer Kübel mit einer fedrigen Palme stand.
Sie versuchte sich zusammenzureißen und lächelte kläglich.
»Es geht schon. Ich ... hab wohl die Strecke ein wenig unterschätzt, die ich mit diesen Dingern hier machen muss.«
Als sie es bis zu einem Sessel geschafft hatte, nahm er ihr die Krücken ab, lehnte beide gegen den zweiten Sessel und setzte sich dann neben sie. Er kratzte sich ein wenig verlegen am Ohr, bevor er sie wieder anschaute.
»Du bist ganz allein hier unterwegs?«
Sie nickte und bemühte sich, ihrer Stimme einen festen Klang zu geben.
»Ja, ich habe es heute einfach mal ausprobiert. Ich will hier nämlich so schnell wie möglich raus, verstehst du?« Sie machte eine kleine Pause. Es war ihr durchaus bewusst, dass sie seine eigentliche Frage noch nicht beantwortet hatte, und sie fuhr fort: »Max musste dringend nach Deutschland zurück. Es gab wichtige Gründe, und die Kinder brauchen schließlich wenigstens einen von uns.«
Sie schluckte, denn dieser Satz machte ihr ihre momentane Einsamkeit in der großen Klinik erst richtig bewusst. Tom hatte auch sofort die Stirn gerunzelt und sah sie wieder mit seinem forschenden Blick an, dem sie im Moment einfach nicht gewachsen war. Also betrachtete sie ihre Hände auf dem Schoß, die unruhig mit dem Gürtel ihres Bademantels spielten. Tom war aufgestanden und vor ihr in die Hocke gegangen. Er griff nach ihren Händen und hielt sie fest, während er sie ungläubig ansah.
»Er hat dich hier ganz allein gelassen?«
Nora schüttelte den Kopf.
»Nein. Nein, Tom. Ich wollte, dass er nach Hause fliegt. Ich habe ihn sogar dazu gedrängt. Außerdem war es mir wichtig, dass unsere Kinder nach so vielen Wochen endlich mal wieder wenigstens einen Elternteil sehen.«
Tom setzte sich erneut und sagte nichts. Er konnte nicht glauben, dass Max Bergmann seine Frau hier so allein zurückgelassen hatte. Gut, er wusste, dass Nora wegen ihrer Sorge um die Kinder sicher nicht unerheblich dazu beigetragen hatte, dass er schließlich geflogen war. Aber dennoch erschien es ihm unvorstellbar, die Frau, die man liebte – und die
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