Noras großer Traum (German Edition)
kleinen Rasenfläche. Sehnsüchtig sah sie nach draußen. Wie lange schon war sie jetzt in Krankenhauszimmern eingesperrt gewesen? Sie konnte einige andere Patienten erkennen, die ebenfalls im Bademantel draußen saßen. Sie schaute an sich hinunter. Die Vorstellung, in dieser Aufmachung auf einer Parkbank zu sitzen, kam ihr ein wenig merkwürdig vor. Die warmen Sonnenstrahlen und der klare blaue Himmel jedoch gaben schließlich den Ausschlag. Jawohl, sie würde auch den Weg vor den Klinikeingang schaffen und ein wenig die Sonne genießen.
Nachdem sie sich eine Zeitung und ein paar saure Drops gekauft hatte, machte sie sich mit zusammengebissenen Zähnen auf den Weg nach draußen. Die Stiche waren heftiger geworden, doch sie beruhigte sich selbst mit der Aussicht, gleich bei einer Bank angekommen zu sein. Dort könnte sie sich für den langen Rückweg erst einmal ausruhen. Sie lächelte dem älteren Herrn am anderen Ende der Bank zu und nahm umständlich Platz, sorgsam darauf achtend, ihre Gehhilfen nicht fallen zu lassen. Sie lehnte sie in Griffnähe neben sich und zog ihre Zeitung aus der Tasche, die sie aber zunächst auf dem Schoß liegen ließ.
Die wärmenden Sonnenstrahlen auf ihrem Kopf machten Nora so glücklich und zufrieden, dass sie sie einen Moment voll auskosten wollte. Sie schloss die Augen und lehnte den Kopf zurück. Wann hatte sie zuletzt die Wärme der Sonne auf dem Gesicht gespürt? Das Picknick am Flussufer tauchte in ihrer Erinnerung auf und vertrieb das zufriedene Lächeln, das um ihren Mund spielte. Sie seufzte leise. Wann würde Tom endlich nicht mehr derart ihre Gedanken beherrschen? Entschlossen setzte sie sich etwas bequemer zurecht und schlug die Zeitung auf, als ein Rettungswagen mit Blaulicht heranbrauste und auf die Notfallaufnahme neben dem Haupteingang zufuhr. Unwillkürlich ließ Nora die Zeitschrift sinken und sah hinüber. Die Wagentüren öffneten sich, während aus der Notaufnahme bereits Klinikpersonal heraneilte. Nach zwei Männern in der typischen Berufskleidung der Rettungssanitäter war auch ein großer, dunkelhaariger Mann in Zivil aus dem Wagen gesprungen. Noras Herz setzte einen Moment aus. Tom! Das konnte doch nicht wahr sein! Wie gebannt starrte sie hinüber und beobachtete, wie Tom offenbar mit einem Kollegen sprach. Er stand jetzt seitlich und hätte sie entdecken können, wenn er den Kopf nur ein klein wenig in ihre Richtung gedreht hätte. Unwillkürlich hielt Nora die Zeitung hoch, um sich dahinter zu verbergen. Ihr Herz hämmerte nun, als hätte sie die ganze Klinik umrundet. Sie fasste es nicht. Seit Wochen versuchte sie, diesen Mann aus ihrem Leben und ihren Gedanken zu verdrängen, und plötzlich tauchte er wieder auf und brachte erneut alles durcheinander. Die Rollbahre wurde nun aus dem Krankenwagen geladen, und Tom und sein Kollege folgten ihr mit raschen Schritten in die Notaufnahme. Einige Minuten lang sah sie in ihre Zeitung, ohne jedoch ein einziges Wort in sich aufzunehmen. Ihre Wangen brannten, und sie wusste, dass dies nicht allein der Wirkung der Sonne zuzuschreiben war. Es gelang ihr nicht, einen klaren Kopf zu bekommen. Sie hatte keine Ahnung, was richtig und was falsch wäre. Sie wusste nur mit Gewissheit, dass sie sich für ihre Familie entschieden hatte, und nun – wenige Sekunden hatten genügt – fielen all die Argumente, die gegen Tom sprachen, auseinander. Trotzdem wehrte sich alles in ihrem Inneren dagegen, diesen fürchterlichen Abschiedsschmerz womöglich noch einmal erleben zu müssen, ihn nach einer neuen Begegnung dann wieder nicht mehr sehen zu können und in dieses tiefe Loch der Orientierungslosigkeit zu fallen. Sie hatte sicherlich länger als eine Stunde auf der Bank gesessen und krampfhaft in die Zeitung gesehen. Der ältere Mann neben ihr erhob sich nun und blieb vor ihr stehen. Er beugte sich ein wenig hinunter und sah ihr in die Augen.
»Entschuldigen Sie, aber ist alles in Ordnung?«
Nora kehrte erst jetzt in die Wirklichkeit zurück. Sie lächelte ihn ein wenig zerstreut an. »Ja, vielen Dank. Es ist alles okay.«
Er nickte ihr noch einmal freundlich zu und ging dann weiter. Nora erschrak, als sie auf ihre Armbanduhr sah. Hoffentlich hatte man sie auf der Station noch nicht vermisst. Sie steckte die Zeitung in die Tasche und griff nach ihren Gehhilfen. Ihre Hände zitterten. Wenn es ihr nur gelänge, bis zum Eingang, durch die Halle und in den Lift zu kommen, dann wäre die Chance, Tom zu begegnen, nur noch minimal.
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