Nordermoor
sie mit Fahrrädern unterwegs. Manchmal mit einer Klapperkiste von Auto. Campingfotos. Erlendur folgerte, dass sie Mitte der achtziger Jahre aufgenommen worden waren.
Er blätterte rasch, legte das Album wieder weg und griff nach dem, was ihm das neueste zu sein schien. Darin sah er ein kleines Mädchen im Krankenbett. Sie hing am Tropf und hatte eine Sauerstoffmaske vor dem Gesicht. Sie hatte die Augen geschlossen und war von allen möglichen Geräten umgeben. Sie schien auf der Intensivstation zu liegen. Er zögerte einen Augenblick, bevor er weiterblätterte.
Erlendur schrak auf, als sein Handy auf einmal zu klingeln anfing. Er legte das Album weg, ohne es zu schließen. Es war Elín in Keflavík, und sie war sehr erregt.
»Er war heute Morgen bei mir«, sagte sie ohne Umschweife.
»Wer?«
»Der Bruder von Auður. Er heißt Einar. Ich habe versucht, dich zu erreichen. Er war heute Morgen bei mir und hat mir gesagt, wie sich das alles zugetragen hat, der Ärmste. Er hat seine Tochter genau wie Kolbrún verloren. Er wusste, woran Auður gestorben ist. Es ist eine Krankheit in Holbergs Familie.«
»Wo ist er jetzt?«, fragte Erlendur.
»Er war todunglücklich«, sagte Elín. »Er ist im Stande, etwas Verrücktes zu tun.«
»Was meinst du damit, etwas Verrücktes?«
»Er sagte, dass es zu Ende sei.«
»Was ist zu Ende?«
»Das hat er nicht gesagt, sondern nur, dass es zu Ende sei.«
»Weißt du, wo er hin ist?«
»Er sagte, er wolle zurück nach Reykjavík.«
»Nach Reykjavík? Wohin da?«
»Das hat er nicht gesagt«, antwortete Elín.
»Sprach er nicht darüber, was er vorhatte?«
»Nein«, sagte Elín. »Das hat er nicht gesagt. Du musst ihn finden, bevor er etwas Verrücktes tut. Er ist in einer grauenvollen Verfassung, der Ärmste. Das ist furchtbar. Einfach furchtbar. Herrgott, so was habe ich noch nie erlebt.«
»Was?«
»Er ist seinem Vater so ähnlich. Er ist Holberg wie aus dem Gesicht geschnitten, der arme Mann, und kann damit nicht leben. Kann es einfach nicht. Nicht nachdem er erfahren hat, was Holberg seiner Mutter angetan hat. Er sagt, er sei ein Gefangener seines Körpers. Er sagt, dass Holbergs Blut in seinen Adern fließt und dass er das nicht ertragen kann.«
»Und was meint er damit?«
»Er scheint sich selbst zu hassen«, sagte Elín. »Er sagt, er ist nicht mehr der, der er war, sondern jemand anderer, und er gibt sich selbst die Schuld daran, wie alles gelaufen ist. Egal, was ich sagte, er hat nicht auf mich gehört.«
Erlendur schaute auf das Fotoalbum, auf das Mädchen im Krankenbett.
»Warum wollte er dich treffen?«
»Er wollte etwas über Auður wissen. Alles über Auður. Was für ein Mädchen sie war. Wie sie gestorben ist. Er sagte, ich sei seine neue Familie. Stell dir das einmal vor!«
»Wo kann er hingegangen sein?«, fragte Erlendur und schaute auf seine Armbanduhr.
»Um Gottes willen, versuch ihn zu finden, bevor es zu spät ist.«
»Wir tun unser Bestes«, sagte Erlendur und wollte das Gespräch beenden, aber er spürte ein Zögern bei Elín.
»Was ist, war da noch etwas?«, fragte er.
»Er hat gesehen, wie ihr Auður ausgegraben habt«, sagte Elín.
»Hat er das beobachtet?«
»Er hatte da schon herausgefunden, wo ich wohne, ist mir zum Friedhof gefolgt und hat dann gesehen, wie ihr den Sarg aus dem Grab geholt habt.«
Kapitel 41
E rlendur verschärfte die Fahndung nach Einar. Fotos von ihm wurden auf den Polizei revieren in Reykjavík und Umgebung verteilt und in den größeren Orten auf dem Land; die Medien wurden benachrichtigt. Er ordnete an, dass der Mann nicht behelligt werden durfte. Falls er gesehen würde, sollte man Erlendur Bescheid geben, aber sonst nichts unternehmen. Er telefonierte kurz mit Katrín, die erklärte, nicht zu wissen, wo ihr Sohn sich befand. Ihre beiden älteren Söhne waren bei ihr. Sie wussten nichts von ihrem Bruder. Albert hatte sich den ganzen Tag auf seinem Zimmer im Hotel Esja aufgehalten. Er hatte nur zweimal telefoniert, beide Male mit seiner Firma.
»Was für eine gottverdammte Tragödie«, murmelte Erlendur auf dem Weg ins Büro. Sie hatten nichts in der Wohnung gefunden, was ihnen einen Hinweis auf Einars Aufenthaltsort geben konnte.
Der Tag verging, und sie teilten sich die Arbeit auf, Elinborg und Sigurður Óli sprachen mit Einars geschiedener Frau, während Erlendur zum Isländischen Genforschungszentrum ging. Der riesige Neubau stand am Vesturlandvegur, fünf Stockwerke, strenge Sicherheitskontrolle am
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