Norderney-Bunker
ärgerlich, dass der Zeitmesser immer wieder raschelnd gegen die Manschette stieß. Störrisches Ding aber auch!
„Es ist ja auch nicht immer so einfach mit den Breitlingen und Cartiers dieser Welt, zumal diese am Gelenk ganz schön zickig sein können“, säuselte Winnetou. Dabei fasste er Lübbert am Ärmel, zog ihn nah an sich heran und flüsterte ihm ins Ohr, nun allerdings in ernsthaftem Ton: „Das ist er.“
„Wer?“
„Das ist Aden. Der Hotelier.“
„Das ist also der Kerl, der neulich die Kohle in der Spielbank abgeräumt hat …“
„… und weswegen du mir ’ne Abreibung verpasst hast.“
„Korrekt. So war’s. Und ich entschuldige mich noch einmal dafür.“
Lübbert setzte sich wieder aufrecht hin, nahm einen großen Schluck vom mittlerweile nur noch lauwarmen Kaffee, griff nach Winnetous Tabakbeutel und schnalzte mit der Zunge. Er zog die Stirn in Falten, während um die beiden herum fröhliches Gemurmel und Gekicher begann.
Von Aden war nichts mehr zu sehen. Er war auf klackenden Absätzen längst in Richtung Krankenhausportal verschwunden. Lübbert musste tief durchatmen. Er legte die Stirn in Falten. Schweigend begann er damit, Daumen und Zeigefinger durch die struppigen, schneeweißen Augenbrauen gleiten zu lassen.
Dann sah er Winnetou fest in die Augen und hauchte: „So sieht der also aus. Na denn.“
Mein Name ist Visser – Gent Visser
Wenn er Ruhe brauchte, dann verzog er sich meist in seine Parzelle. Diese befand sich gleich neben dem Vereinsheim im Norderneyer Kleingartengelände Schlickdreieck . Vor der Laube wartete eine Ruhebank mit gusseisernem Gestell auf ihn, die ihm seine Hobbygärtner-Kollegen vor drei Jahren zum fünfzigsten Geburtstag geschenkt hatten. Gent fand sie zwar schön und meinte, sie werde durch die Verwitterungen jedes Jahr noch schöner, doch er nutzte sie nicht. Er hatte sie zum Anschauen. „So, wie meine Blumen“, sagte er immer, wenn man ihn fragte, warum er die Bank nicht nutzte. Auch heute saß er auf dem kleinen Treppenabsatz, den er sich aus alten Klinkern selbst zusammengemauert hatte und blickte hinüber ins Blumenbeet. Klatschmohn, Rittersporn, Anemonen; Gent Visser liebte es bunt. Und natürlich seine Rosen. Sie zierten nicht nur den Holzbogen am Eingang seiner Parzelle, sondern auch die Frontseite und den südlichen Giebel der Laube. Vissers Parzelle trug keinen Namen. Er fand das albern. „Abendsonne“, „Morgenfrieden“ oder „Papas Paradies“. Dies alles stufte er als reichlich einfallslos und gefühlsduselig ein. Sein Humor war schlicht ein anderer. Und damit konnte er komplette Vereinsversammlungen im Stile karnevalistischer Prunksitzungen aus den Angeln heben.
Heute wäre ihm dies allerdings nicht gelungen. So wie er da auf seinem kleinen Treppenabsatz kauerte, mit den Ellbogen auf den Knien und den Kopf in die kräftigen Handflächen abgelegt, wirkte er beträchtlich in sich gekehrt. Insgeheim war er heute sogar froh, dass weit und breit niemand zu sehen war; selbst auf ein Schwätzchen unter lieben Kollegen hatte er keine Lust. Der Arztbesuch gestern Morgen, unmittelbar nach dem Einsatz mit dem zusammengeschlagenen Mann am Damenpfad, hatte ihn nachdenklich gemacht, sehr nachdenklich. Es war mal wieder so ein verdammter Tag, an dem die Gedanken verschwammen. Er wusste ihnen keine Struktur zu geben, er schaffte es nicht, die Probleme, die ihn momentan bewegten, in sich zu ordnen, geschweige denn, sie zu lösen. Vielleicht war Gent auch wieder allzu grüblerisch heute. Das und die Tatsache, dass er bisweilen ein wenig harmoniebedürftig daherkam, warfen Freunde wie Kollegen ihm nicht selten vor.
Schon als junger Kerl hing er den Gedanken nach. Spätestens in der Oberstufe, als er mit der Fähre Tag für Tag tapfer durchs Wattenmeer nach Norden zum Gymnasium fuhr, entdeckte er seine Leidenschaft für Literatur und Philosophie. Es war der Religionslehrer, der mit seiner Klasse „Die Pest“ von Albert Camus las. Fortan hatte er sein geheimes Hobby gefunden, das Lesen. Es riss ihn mit und ließ ihn kaum noch los; über all die Jahre.
In der Familie konnte er damit nicht unbedingt landen. Wir sind bodenständige Leute, ehrliche Arbeiter. Unsere Vorfahren fuhren hinaus aufs Meer, waren Seenotretter und immer froh, wenn sie ihre Kinder satt bekamen. Warum soll das bei uns anders sein, bekam er stets zu hören, wenn er Geld brauchte, um sich ein Buch zu kaufen. Dass er aufs Gymnasium gehen durfte, verdankte er seinem
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