Nordseefluch: Kriminalroman
verschwand durch die Pendeltür.
Ich ging zurück zum Parkplatz.
Zur Kreisstadt Aurich waren es fünfundzwanzig Kilometer. Ich nahm mir Zeit und steuerte den Wagen in den Verkehrsfluss.
Ich dachte mir, dass der Staatsanwalt von mir eine Stellungnahme und ein Charakterbild des Mörders wünschte, da ich zufällig sein letzter Klassenlehrer war.
Dass Manfred Kuhnert der Täter war, das stand für mich fest, das konnte auch der geschickteste Anwalt nicht wegdiskutieren.
Das Gebäude, in dem die Staatsanwaltschaft untergebracht war, erhob sich vor mir mit vielen Fenstern im dicken, rissigen Mauerwerk. In dem ehemaligen Schloss bearbeiteten Beamte in düsteren Zimmern Akten.
Das Parkproblem löste sich, als ein Anwalt mit dem Talar über dem Arm in seinen Wagen stieg und davonfuhr. Ich konnte meinen Golf dicht vor dem Torbogen abstellen.
Mein Fußweg führte an den stilisierten Betonlöwen vorbei, die vergessen auf Sockeln thronten. Ich hatte das Gebäude noch nie betreten. Deshalb blickte ich verwundert auf die großen Flügeltüren, die kommende und gehende Menschen passierten. Der wohlgenährte Pförtner, dessen rechter Arm bewegungslos auf einem Schreibtisch lag, schaute durch eine Fensteröffnung.
»Staatsanwalt Buschmann«, sagte ich.
Seine Augen blickten an mir vorbei. »Zimmer 312, oben«, erwiderte er.
Die Treppenstufen waren alt und ausgetreten. Die langen Flure wirkten abstoßend. Ich hatte das Gefühl, als säßen die, die Sünder und Verbrecher richteten und einsperren ließen, selbst in einem Gefängnis.
Ich klopfte an die Tür mit der Nummer 312. Eine Angestellte blickte auf, als ich die Dienstzimmertür öffnete. Sie saß vor einem hässlichen unmodernen Schreibtisch.
»Herr Färber?«, fragte sie.
»Ja«, antwortete ich.
»Einen Moment, Herr Buschmann empfängt Sie gleich.«
Ein Stuhl stand bereit. Einige mit Tesafilm befestigte Poster ferner Städte – ich erkannte Helsinki, Athen und Rom – klebten als Traumziele an der gekalkten Wand.
Von meinen Gedanken lenkte mich ein Mann ab, der die Tür öffnete, nicht größer war als ich, aber jünger. Er lächelte freundlich.
»Buschmann«, stellte er sich vor und bat mich, einzutreten.
Sein Schreibtisch war alt und trug handwerkliche Würde. Mein Blick fiel auf Kommentare und Gesetzesbücher, deren Rücken Großbuchstaben trugen. HGB, BGB und StGB las ich und bemerkte erst jetzt den Mann im blauen Blazer mit farbenfroher Krawatte, der sich aus seinem Sessel erhob.
»Darf ich vorstellen, Herr Oberstudienrat Färber, Herr Professor Dr. Loraner, Ordinarius für angewandte Psychiatrie.«
Es gibt Klischees. Aber Professor Loraner entsprach ihnen nicht. Er wirkte eher wie ein Vertreter, der Büroelektronik verkaufte.
»Angenehm«, sagte er, drückte mir die Hand und überließ dem Staatsanwalt die Weiterführung des Gesprächs.
Buschmann, sein Gesicht wurde von einem schwarzen Bart umrandet, wirkte kumpelhaft. Ich folgte seinem Wink und setzte mich in den Kaufhaussessel zu dem Professor an den kleinen Tisch.
»Herr Färber, wir haben Sie zu uns gebeten, weil der unter Mordverdacht stehende Schüler Manfred Kuhnert uns Rätsel aufgibt. Das Gutachten, das Professor Loraner mit bestem Wissen und Gewissen angefertigt hat, haben Sie kennengelernt. Die Frage der Schuldfähigkeit soll hier nicht geprüft werden. Es sind andere Umstände, die uns veranlassen, Ihren pädagogischen Rat zu suchen.«
Ich kam mir einsam vor.
Der Professor sah mich durchdringend an.
»Herr Färber, das Mädchen ist tot. Wir können es nicht mehr ins Leben zurückrufen. Aber was uns gelingen muss, das ist die Rekonstruktion des Mordablaufs. Manfred Kuhnert behauptet – ich muss hinzufügen, nicht ganz unglaubwürdig, obwohl er völlig betrunken war und sich kaum noch an etwas erinnern kann –, dass er, und jetzt hören Sie gut zu, das Mädchen gesucht hat, um sich mit ihm zu unterhalten. Marion wäre sehr schön gewesen und hätte ihn irgendwie an ein Paradies erinnert und an den Frieden, den er immer gesucht hätte. Ich gebe zu, dass das seltsam klingt, weil Manfred Kuhnert ein erwachsener Mann ist.«
Ich sah, wie der Professor in einen Ordner griff und Dokumente bereithielt.
»Wir haben Manfred Kuhnert in die Psychiatrie eingewiesen«, sagte Loraner. »Es spricht medizinisch gesehen einiges dafür, dass er dort einer Heilung entgegensehen kann. Seltsamerweise erinnert er sich an die Plüschhandtasche und den MP3-Player der toten Marion, die er bei sich gehabt hat,
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