Nordseefluch: Kriminalroman
obwohl sie ihn sehr belasten. Die Tat selbst weist er von sich, ohne uns Beweise seiner Unschuld liefern zu können.«
Der Staatsanwalt bemerkte meine Ratlosigkeit.
»Manfred fleht geradezu um Ihren Besuch, Herr Färber«, sagte er.
Die Vorzimmerdame brachte Kaffee. Für Minuten lenkte er mich ab.
»Herr Färber, halten Sie Ihren Kollegen Habbo Stinga für fähig, dass er in einer Kurzschlussreaktion seine vor zwölf Jahren zur Adoption freigegebene Tochter in einer Überwallung seiner Gefühle erdrosselt haben kann?«, fragte Buschmann.
Mich überfiel eine Gänsehaut. Habbo Stinga, der ein Vermögen für sein Kind angesammelt hatte, der schweigsam dem Lärm der sich selbst darstellenden Kollegen den Rücken gekehrt hatte, wäre sicher erst dann zum Mörder geworden, wenn sich ein Täter am Leben seiner Tochter vergriffen hätte.
»Unmöglich«, sagte ich erbost. »Habbo gehörte zu denen, die Maulwurfshügel duldeten und sich von Mücken stechen ließen, ohne sie zu zerquetschen.«
Konnte ein Mann wie Habbo ausflippen? Mir schien der Gedanke absurd.
»Herr Professor, nehmen wir an, meinem Kollegen wären, warum auch immer, die Nerven durchgegangen. Folgern wir weiter, er hätte in einer Wahnvorstellung seine Tochter getötet und sich später deswegen selbst erhängt, dann bleibt aber noch die sexuelle Belästigung im Raum stehen. Den Vater damit gedanklich in Verbindung zu bringen halte ich für eine Sünde, die keine Verzeihung finden würde im Gedenken an den Toten.«
Der Staatsanwalt setzte die Tasse ab.
»So weit wollte sich Herr Loraner auch nicht vorwagen, Herr Färber. Wenn ich ihn richtig verstanden habe, dann sucht er die Breite der seelischen Fehlsteuerung Ihres Kollegen ab.«
»Habbo Stinga war ein Mann, den nichts so schnell umwerfen konnte. Seine Vorstellungen vom Leben und beruflichen Ethos waren so bodenständig und nüchtern wie die grüne Weide- und Wiesenlandschaft, in die er verwurzelt war!«, sagte ich.
Ich wusste, dass meine Sätze schwammig klangen. Dennoch glaubte ich mit ihnen ausgedrückt zu haben, dass Habbo Stinga nur deshalb zum Kälberstrick gegriffen haben konnte, weil irgendetwas in ihm all das infrage gestellt haben musste, was er gedacht, geliebt und geschaffen und woran er geglaubt hatte.
Gezielt setzte der Staatsanwalt nach.
»Der Mord an der kleinen Marion war der Auslöser«, sagte Buschmann. »Zufällig besuchte er die Insel, als das Mädchen dem mutmaßlichen Mörder zum Opfer fiel. Vielleicht hat er sich an der Suche nach ihr beteiligt. Hätte Stinga sich auch umgebracht, wenn er nicht die Inselreise unternommen und die Nachricht vom Ableben seiner Tochter anderweitig erfahren hätte?«
»Nach den üblichen Erfahrungen wird der Schock des Todes zuerst vom eigenen Überlebenswillen abgefangen, und die nahestehenden Betroffenen suchen Trost in Gebeten, Jenseitsvorstellungen oder im gemeinsamen Leid, mit sich gegenseitig unterstützenden Hilfestellungen«, sagte Professor Loraner. »Irgendeine uns unbekannte Verstrickung mit dem Verbrechen auf der Insel zwang den aufrechten Mann in die Knie, und das wenige Tage nach dem Mord an seiner Tochter. Für uns ist seine Motivation schwer zu ergründen, aber ohne sie aufzudecken, wird es uns nicht gelingen, Manfred Kuhnert zu überführen und den Kutschermord aufzuklären.«
Das sagte mir zu. Das war schlüssig und es lohnte sich, darüber nachzudenken. Ich trank den lauwarmen Kaffee.
Der Staatsanwalt nickte. Professor Loraner fuhr fort: »Fest steht, dass Manfred Kuhnert vollgepumpt mit Alkohol war und sich zurzeit an nur wenige Details erinnern kann, aber behauptet, das Mädchen gesucht zu haben. Er besaß ihre Handtasche und ihren MP3-Player und sagt aus, dass sie tot war, als seine Erinnerung wieder einsetzte. Vielleicht waren es der kühle Seewind oder die körperlichen Anstrengungen, die ihm die Vernebelung kurzfristig nahmen.«
»Wir stehen erst am Anfang der Ermittlungen«, sagte Buschmann. »Manfred Kuhnert wird es schwer haben, sich zu entlasten. Der Kutschermord wirft ebenfalls viele Fragen auf. Darum habe ich eine Bitte an Sie, Herr Färber. Es wäre in unserem Interesse, wenn Sie den Jungen in der Anstalt aufsuchen würden. Sie besitzen sein Vertrauen. Noch mehr. Er will Sie unbedingt sprechen. Vielleicht gelingt es Ihnen, ein bisschen mehr Klarheit in das Mordgeschehen von Juist zu bringen.«
Professor Loraner nickte.
»Schaden kann Ihr Besuch nicht«, sagte er.
»Für mich steht fest«, sagte ich
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