Nordwind: Kriminalroman (German Edition)
ablenken.
Er hielt das Bild ans Fenster. Das Tageslicht schien genau an acht Punkten hindurch, und er meinte hören zu können, wie sich ein Bleistift oder eine Zirkelspitze durch das Papier bohrte.
Erst als er die fragenden Blicke der anderen bemerkte, begriff er, dass er das Bild zu lange angestarrt hatte. Er reichte es Sara.
»Ich kann verstehen, dass Ihnen das Angst macht«, sagte er.
»Wer tut denn so was?«, fragte Malin. »Es ist so unheimlich.«
Ihre Stimme wurde leiser, und sie rieb sich die Arme, als würde sie frieren.
»Aber es fehlte nicht nur dieses hier?«
»Nein«, erwiderte Henrik. »Alle Bilder, die im Arbeitszimmer hingen, waren verschwunden. Sechs Stück. Aber das hier ist das einzige, das wir wiedergefunden haben.«
»Und Sie haben überall gesucht?«
Malin nickte. »Ich habe jeden Winkel durchforstet.«
»Diese hier hingen jedoch noch da?« Fredrik zeigte auf die Fotos von Malin und den Kindern über dem Sofa.
»Ja«, beantwortete Malin die rhetorische Frage.
Sara legte sich das Foto aufs Knie.
»Wir müssen es mitnehmen.«
»Natürlich, das ist ja klar.« Henrik machte eine Handbewegung, die aussah, als würde er das Foto erneut überreichen.
»Wie sind Sie eigentlich an diese Personen gekommen, denen Sie Ihr Haus vermietet haben?«, fragte Fredrik.
»Über die Agentur Gotlandsreisen«, sagte Henrik.
»Sie hatten also selbst keinen Kontakt mit den Mietern?«
Henrik schüttelte den Kopf.
»Nein, das lief alles über die Vermittlung.«
»Die Namen und Adressen haben Sie vielleicht trotzdem?«, wollte Fredrik wissen.
»Doch, die haben wir. Gotlandsreisen hat uns Kopien der Verträge geschickt.«
Henrik sprang vom Sofa auf, lief wieder aus dem Zimmer und kehrte kurz darauf mit den Unterlagen zurück.
Hastig überflog Fredrik die drei Bögen. Zwei der Mieter kamen aus dem Großraum Stockholm, und einer wohnte in Göteborg. Er war zuletzt hier gewesen.
»Haben Sie versucht, mit einer dieser Personen Kontakt aufzunehmen, seit Sie wieder hier sind?«
»Die Leute aus Göteborg habe ich tatsächlich angerufen«, sagte Henrik. »Ich bin so wütend geworden, als wir das Bild fanden. Da konnte ich es mir nicht verkneifen, aber ich habe niemanden erreicht.«
Er zuckte ratlos mit den Schultern.
»Falls einer der Mieter hinter der Sache steckt, handelt es sich ja wahrscheinlich um den letzten«, sagte Fredrik.
»Stimmt«, erwiderte Henrik. »Das habe ich mir auch gedacht.«
»Mal abgesehen von den Mietern, fällt Ihnen sonst noch jemand ein, der das getan haben könnte? Eine Person, die Sie erschrecken oder bedrohen möchte?«
»Wie meinen Sie das?«, fragte Malin.
»Nun, es lässt sich ja nicht ausschließen, dass jemand hier war, als die letzten Mieter abgereist und Sie noch nicht wieder zurück waren.«
Auf dem Sofa wurde es still. Henrik rutschte ein Stück nach hinten. Malin sah ihn an.
»Tja …«, begann er. Er kratzte sich nervös am Kopf. »Ich habe Verwandte hier auf Fårö, zwei Halbschwestern, mit denen ich eigentlich keinen Kontakt habe …«
Er hielt inne und blickte beschämt zwischen Fredrik und Sara hin und her. »Natürlich möchte ich niemanden anschwärzen …«
»Was soll das heißen?«, rief Malin.
Sie richtete sich auf und warf Henrik einen verärgerten Blick zu.
»Es geht hier nicht darum, jemanden anzuschwärzen«, mischte sich Sara ein. »Überlegen Sie einfach, ob es möglicherweise jemanden gibt, der sich bei Ihnen für irgendetwas revanchieren möchte, auch wenn es Ihnen unwahrscheinlich vorkommt. Herauszufinden, ob diese Person tatsächlich etwas mit dem Bild zu tun hat oder nicht, ist unsere Aufgabe.«
»Okay, ich verstehe«, sagte Henrik.
Malin nickte ihm aufmunternd zu.
»Ich habe zwei Halbschwestern hier auf Fårö«, erklärte Henrik erneut. »Abgesehen von der Beerdigung meiner Mutter bin ich ihnen im Grunde noch nie begegnet. Was heißt im Grunde. Da habe ich sie zum ersten Mal gesehen. Darüber hinaus hatten wir lediglich per Brief und telefonisch Kontakt. Insgesamt aber sehr selten.«
Fredrik hörte aufmerksam zu. Instinktiv spürte er, dass an diesem Bericht, von dem er bislang nur den Anfang gehört hatte, etwas wichtig war.
»Es ist eine lange Geschichte, aber ich werde versuchen, mich so kurz wie möglich zu fassen.«
»Nehmen Sie sich so viel Zeit, wie Sie brauchen.«
Während Henrik überlegte, wie er weitererzählen sollte, bewegte er den Oberkörper leicht vor und zurück.
»Mein Vater hat eigentlich nie eine Rolle
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