Nordwind: Kriminalroman (German Edition)
einfach gehen. Das verstehen Sie doch, oder?«
Sie nahm die Hände vom Gesicht und senkte den Blick. Das Schluchzen wurde weniger.
»Man glaubt, es wird schon irgendwie«, schniefte sie, »aber dann ist plötzlich das halbe Leben vorbei, und man steht immer noch auf derselben Stelle und starrt hoffnungsvoll in die Zukunft. Wissen Sie, was ich meine?«
Sie sah sie einen Moment lang aus rotgeweinten Augen an. Stina Hansson war erst fünfunddreißig Jahre alt. Sie hatte immer noch genug Zeit für alles, aber Fredrik konnte sie trotzdem verstehen. Das glaubte er jedenfalls.
»Es ist, als würde sich das Leben um hundertachtzig Grad drehen, und obwohl man sich nicht vom Fleck gerührt hat, ist plötzlich alles anders«, sagte sie leise.
»Ein Unterschied wie Tag und Nacht. Auf einmal ist es zu spät.«
52
Nachdem Elisabet Vogler die Haustür hinter sich zugezogen hatte, sah sie Sara Oskarsson und Ove Gahnström, die auf ihrer Vortreppe standen, auffordernd an.
Sara musterte Elisabet, während sie nach den passenden Worten suchte. »Ich weiß nicht, ob es sich schon zu Ihnen rumgesprochen hat, aber Malin Andersson, die Ehefrau Ihres Halbbruders Henrik Kjellander, wurde gestern Abend in ihrem Haus tot aufgefunden. Ihr Sohn Axel ebenfalls. Mein Beileid.«
Als Sara den Jungen erwähnte, blinzelte Elisabet Vogler, aber ansonsten verzog sie keine Miene.
Es war eine seltsame Situation. Die Geschwister hatten sich in ihrem ganzen Leben nur ein einziges Mal auf einer Beerdigung gegenübergestanden und stritten sich gerade um ihr Erbe. Trotzdem hatte Sara das Bedürfnis, Mitgefühl zeigen zu müssen.
»Danke«, brachte Elisabet schließlich zustande.
Sie hatte ihre Hand bereits wieder auf der Türklinke, als wäre das Ganze damit für ihren Teil erledigt. Ein Windstoß ließ die Blätter in den Ahornkronen rascheln.
»Nun«, sagte Ove, »wir haben noch ein paar Fragen. Dürfen wir einen Moment reinkommen?«
Elisabet lachte wie über eine witzige Bemerkung. Wortlos sah sie ihn an. Dabei hielt sie den Kopf ein wenig gesenkt und hatte die Schultern hochgezogen, als würde sie etwas Sonderbares betrachten.
Wieder breitete sich ein unangenehmes Schweigen aus, das dann doch von Elisabet Vogler beendet wurde. »Na ja, gut, dann kommen Sie mal rein«, sagte sie und drückte nun die Klinke herunter.
Elisabet führte sie in eine große helle Küche gleich links vom Eingang. »Willkommen«, sagte sie in einem Tonfall, der das Gegenteil zu meinen schien.
Sie zeigte auf einen langen Eichentisch, der vor den beiden Fenstern zum Hof stand. In der Mitte standen zwei Kerzenleuchter aus Zinn, und darüber hing eine Lampe mit zwei weißen Glasschirmen.
»Wo waren Sie gestern Abend zwischen sechs und acht Uhr?«, leitete Ove das Verhör ein, nachdem sie Platz genommen hatten.
Massiv und unerschütterlich saß er ihr direkt gegenüber. Sein Hemd unter dem beigefarbenen Blouson spannte ein wenig über dem Bauch. Er hatte beide Ellbogen auf den Tisch gestützt und seinen Notizblock vor sich hingelegt.
»Bin ich jetzt etwa die Mörderin?«, brach es aus Elisabet Vogler heraus. »Habe ich meine Schwägerin erschlagen? Denken Sie das?«
»Wir überprüfen alle, die in Beziehung zu der Familie stehen und sich zum Zeitpunkt des Verbrechens auf Fårö befunden haben. Reine Routine.«
»Ich stand zu keinem von denen in Beziehung«, sagte Elisabet.
»Aber Sie sind mit ihnen verwandt«, erwiderte Ove geduldig.
Sara hatte Mühe, sachlich zu bleiben. Elisabet Voglers herablassende Art ärgerte sie. Aber sie sah, dass sich dahinter auch noch etwas anderes verbarg, so etwas wie Nervosität.
»Also, wo waren Sie zwischen sechs und acht?«, wiederholte Ove, als Elisabet nicht antwortete.
»Da war ich zu Hause«, seufzte sie.
Sie hob das Kinn und sah ihn mit ihren hellblauen Augen an. Sara konnte sich des Eindrucks nicht erwehren, dass sie trotz ihres distanzierten Auftretens unheimlich nackt wirkte. Hinter ihrem Aussehen ließ sich nicht viel verbergen.
»War noch jemand hier?«
»Natürlich, um die Zeit. Mein Mann und die Kinder waren auch zu Hause.«
Elisabet blickte aus dem Fenster. Ein anhaltendes lautes Geräusch drang zu ihnen herein. Es klang wie die Lüftung in einem Silo.
Ove schien sich gerade die nächste Frage zu überlegen, als die Tür aufging und Ernst Vogler eintrat. Er blieb auf der Schwelle stehen und sah Ove und Sara an. Dabei strich er sich mit seinen großen Händen die blaue Arbeitsjacke glatt.
Sara stand auf,
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