Nordwind: Kriminalroman (German Edition)
spürte, dass sich in seinem Hinterkopf eine leichte Verärgerung anstaute, aber noch blieb er ruhig und gefasst.
»Okay.« Sie kauerte sich auf ihrem Stuhl zusammen.
»Ist Ihnen kalt?« Sollte er zu unfreundlich gewirkt haben, wollte er es gerne wieder wettmachen.
»Nein, schon in Ordnung.«
Er lächelte sie kurz an. »Wann sind Sie gestern nach Hause gekommen?«
»Um halb fünf, glaube ich. Ich habe etwas früher Schluss gemacht.«
»Aus einem bestimmten Grund?«
»Wir hatten nicht viel zu tun, und das wollte ich ausnutzen.«
»Aber wann genau Sie gegangen sind, wissen Sie nicht?«
»Nicht hundertprozentig. Aber es war gegen halb fünf.«
Sie hatte ihre Arme so krampfhaft verschränkt, als würde sie sich selbst umarmen. Offenbar fror sie doch.
»Hat Sie jemand nach Hause kommen sehen? Ein Nachbar hier im Haus oder auf der Straße?«
»Soweit ich weiß, nicht, aber Sie können ja …« Sie riss sich zusammen. Eine Zurechtweisung hatte sie ja bereits kassiert.
»Wir werden uns ohnehin bei den Nachbarn erkundigen«, sagte Fredrik, »aber falls Sie wissen, dass jemand Sie gesehen hat, geht es schneller.«
Stina nickte. Die Sonne fiel von der Seite auf ihr Gesicht, weshalb sie ein Auge zukniff.
»Waren Sie gestern auf Fårö?«, fragte Fredrik weiter.
»Nein.«
»Sie sind von der Arbeit direkt nach Hause gefahren?«
»Ja.«
»Und später am Abend waren Sie auch nicht mehr unterwegs?«
»Nein.«
Stina ließ ihre Oberarme los und beugte sich ein wenig vor.
»Sie hat mich auf dem Parkplatz gerammt. Ich habe sie angezeigt. Anscheinend ist sie nicht ganz richtig im Kopf. Keine Ahnung, was sie sich dabei gedacht hat. Aber …«
Sie sah zuerst Fredrik und dann Gustav eindringlich an.
»Aber was?«, fragte Fredrik.
»Das jetzt ist doch etwas vollkommen anderes. Ich verstehe nicht, wieso jemand … Ich habe kein Auge mehr zugetan, seit Ihre Kollegen hier waren. Ich glaube auch nicht, dass irgendjemand anders im Haus schlafen konnte. Es ist ziemlich stressig, dass die Polizei jedes Mal sofort bei mir vorbeikommt, wenn etwas passiert. Man fragt sich, was die Leute denken.«
»Ihre Nachbarn scheinen doch gar nicht zu bemerken, wann Sie nach Hause kommen, vielleicht fällt ihnen die Polizei auch nicht auf«, sagte Gustav.
Stina Hansson warf ihm einen wütenden Blick zu. Auf ihren blassen Wangen flammten zwei rosafarbene Flecke auf. »Ich war vor fünfzehn Jahren mit Henrik zusammen. Na und? Okay, letzte Woche bin ich ihm hinterhergefahren, weil ich mit ihm reden wollte.« Sie schleuderte ihnen die Worte mit zitternder, erboster Stimme entgegen. »Und ich bin blond, und ich habe ein weißes Auto, genau wie es in der Zeitung steht.«
Sie kicherte sarkastisch und schüttelte den Kopf.
»Das ist so lächerlich. Merken Sie das nicht?«
Bei den letzten Worten brach ihre Stimme, und sie fing ganz plötzlich an zu weinen. Ihr ganzer Körper wurde von Schluchzern geschüttelt.
»Stina«, begann Fredrik.
Sie machte eine abwehrende Geste in seine Richtung, als ob er sie hätte berühren wollen. Ihr Weinkrampf wurde stärker, wie Regen, der sich zum Wolkenbruch steigert.
Fredrik warf Gustav einen raschen Blick zu. Das war eine heftige Reaktion. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass sich Menschen ganz unterschiedlich verhielten, wenn sie mit dem Tod in Berührung kamen. Manchmal hatten ihre Reaktionen etwas mit ihrem Verhältnis zum Tod zu tun, aber manchmal löste auch der Tod selbst etwas in ihnen aus. Manche verschlossen sich und wirkten gefühlskalt, einige brachen zusammen, und andere verhielten sich plötzlich übertrieben freundlich oder energisch. Es war verlockend, Schlüsse daraus zu ziehen, aber man täuschte sich leicht.
»Gehen Sie weg«, zischte Stina schluchzend.
Einen Moment lang war Fredrik ratlos, als Polizist und als Mensch. Sollten sie sie mitnehmen? Falls Stina Hansson die Täterin war, würde sie vielleicht vollkommen zusammenbrechen. Es bestand die Gefahr, dass sie sich das Leben nahm.
»Gehen Sie endlich!«, schrie sie nun beinahe und schien sich kein bisschen zu beruhigen.
»Solange Sie so außer sich sind, können wir nicht gehen, Stina.«
»Doch, das können Sie.« Sie hielt sich beide Hände vors Gesicht.
Für Fredrik wurde immer deutlicher, dass sie sie mit nach Visby nehmen mussten.
Schweigend saßen er und Gustav am Tisch, während Stina hinter ihren Händen Rotz und Wasser heulte. Fredrik wünschte, Sara wäre jetzt mit dabei.
»Stina«, sagte Gustav, »wir können nicht
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