Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Triebkraft und kämpfte gegen hunderttausend anscheinend unbewegliche Objekte: Die damaligen Kliniker hassten es, zusammengetrieben zu werden (sie sind seither weitgehend zahm geworden). Das DSM-III fasste Patienten anhand oberflächlicher Ähnlichkeiten zusammen und ignorierte individuelle Unterschiede. Psychologisch orientierte Kliniker hingegen setzten lieber auf Empathie und kreative Einfühlung, um die komplexe Lebensgeschichte jedes Patienten, unbewusste Beweggründe und die soziale Umgebung zu ergründen. Sie lehnten Schubladendenken ab, wollten nicht blindlings Regeln folgen, die ihnen von außen vorgesetzt wurden. Die simplifizierte Herangehensweise des DSM-III war jedoch unumgänglich, damit überhaupt Einigkeit bezüglich einer Diagnose zu erzielen war – aber sie schien fast alles auszublenden, was an einem Patienten am interessantesten war. Bob lieferte eine lingua franca , aber ihre Zielgruppe, die Menschen, die sich in ihr verständigen sollten, fand sie wenig attraktiv. Er verwandelte die Poesie einzelner Patienten in DSM -Prosa.
Ich war zunächst sehr skeptisch gegenüber dem DSM-III und ließ mich erst spät und nur partiell bekehren. Bob und ich hatten uns rund zehn Jahre vor dem DSM-III kennengelernt. Er war in den späten Sechzigerjahren einer meiner Lehrer gewesen und ein Mensch, den ich persönlich sehr mochte, den ich aber in beruflicher Hinsicht weitgehend abgeschrieben hatte, weil er seine gesamte Aufmerksamkeit auf, wie ich fand, oberflächliche und dumme diagnostische Fragen richtete. Mir ging es damals nur darum, zu erfahren, welche Motivationen die Menschen bewegten und wie ich ihnen helfen konnte, damit ihr Leben dank Psychotherapie ein bisschen leichter würde. Ein paar Jahre später, als Bob mit der Arbeit am DSM-III begann, war ich etwas älter, nicht viel klüger und nicht im geringsten interessiert. Ich leitete damals die Ambulanz am Cornell-New York-Krankenhaus, und mein kostspieliges Hobby war die Ausbildung zum Psychoanalytiker an der Columbia University, wo ich Bob gelegentlich auf dem Flur traf. Bei einer unserer Kurzplaudereien machte ich den Vorschlag (der heute völlig hirnverbrannt wirkt), sie sollten doch ins DSM-III auch eine masochistische Persönlichkeitsstörung aufnehmen, um Menschen zu beschreiben, die aus unbekannten Gründen selbstquälerisch ihre Chancen auf Lebensglück wiederholt sabotieren. Mit dieser Idee beschäftigte ich mich zu der Zeit und trug mich sogar mit dem Gedanken, einen Artikel für eine psychoanalytische Zeitschrift darüber zu schreiben. Bob verwarf meinen Vorschlag zu Recht, so wie ich später, als jemand denselben Vorschlag für das DSM-IV machte. Das sei viel zu inferentiell, um jemals als verlässlich eingestuft zu werden, erklärte er, und überhaupt sei jede psychiatrische Störung von Natur aus ein Saboteur. Doch Bob war offen für alles, und für sein DSM-III -Team rekrutierte er instinktiv jeden, der bereit war, Lebenszeit zu opfern, um seinem unersättlichen Appetit nach diagnostischen Diskussionen entgegenzukommen. Bald arbeitete ich eifrig am DSM-III mit und hatte die Aufgabe erhalten, die Kategorie Persönlichkeitsstörungen zu bearbeiten und darüber hinaus die neuen Methoden meinen skeptischen Kollegen in den verschiedenen Psychoanalytikerverbänden zu erklären.
Als ich das DSM-III mit der Zeit wirklich gut kennenlernte, konnte ich besser würdigen, weshalb es notwendig war, aber ich verstand auch seine naturgegebenen Grenzen. Mein damaliger Eindruck, der mir immer noch richtig erscheint, war, dass das DSM-III zwar absolut wichtig war, zugleich aber viel zu wichtig genommen wurde. Es war die Rettung einer wissenschaftlich gestützten Psychiatrie, aber es stutzte die Reichweite des Fachgebiets und löste eine schädliche diagnostische Inflation aus. Wichtig war es, weil es System in die Diagnostik und Therapie psychischer Störungen brachte – die Psychiatrie war bis dahin eine reine Kunstform gewesen, manchmal brillant, meist schrullig, immer chaotisch. Es gibt immer noch vieles in der Psychiatrie, das auf nützliche Weise kunstvoll ist, aber jetzt haben wir eine Standardisierung und ein festeres wissenschaftliches Fundament.
Aber die lauthals angepriesene Verlässlichkeit des DSM-III war, um einen Begriff aus dem Börsenjargon zu verwenden, »überverkauft«, denn das unter idealen Umständen, nämlich unter Forschungsbedingungen erzielte Maß an diagnostischer Übereinstimmung lässt sich im Klinikalltag, in dem es oft
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