Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
stürmisch zugeht, niemals erreichen. Aber das DSM-III war auch »überkauft«, sowohl im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Es wurde zum Dauerbestseller, womit niemand je gerechnet hätte; jedes Jahr verkauften sich Hunderttausende Exemplare, weitaus mehr, als Menschen in der Psychiatrie und den verwandten Bereichen arbeiten; 1984 erschien es erstmals auf Deutsch. Das DSM-III war Opfer des eigenen Erfolgs – es wurde zur Bibel der Psychiatrie und stellte andere Aspekte der Fachdisziplin in den Schatten, die damit ausgeschlossen waren, was sie nicht verdient hatten. Die Diagnose sollte nur ein Teil einer vollständigen Begutachtung sein; stattdessen wurde sie zum beherrschenden Teil. Was eine ganzheitliche Betrachtung des Patienten hätte sein sollen, beschränkte sich oft auf das Ausfüllen einer Checkliste. Verloren gingen dabei der Erzählbogen eines Lebens und die umgebungsbedingten Faktoren, die entstehende Symptome beeinflussen. Dies war kein inhärenter Makel des DSM-III ; es rührte vielmehr daher, dass die Kliniker, Professoren und ihre Studenten, die Forscher, Kranken- und Berufsunfähigkeitsversicherungen, Bildungssysteme und Gerichte ihm viel zu viel Autorität beimaßen. Und natürlich die Öffentlichkeit. Als Gesprächsthema auf Partys trat die »Diagnose nach DSM-III « rasch an die Stelle der Psychoanalyse, und die Leute schienen geradezu versessen darauf, eine Schublade für ihre Probleme (oder die ihres Chefs) darin zu finden.
Die schlimmste Folge des DSM-III war die diagnostische Inflation. Die Schuld daran trägt zum Teil die Art und Weise, wie es entstand, zum größeren Teil aber der Missbrauch, der unter dem Einfluss der pathologisierungsfreudigen Pharmaunternehmen mit ihm getrieben wurde. Das DSM-III war der Traum des Splitters und der Albtraum des Lumpers – Letzterer setzt auf Gemeinsamkeiten und duldet daher eine relativ große Variationsbreite; der Splitter hingegen, der präzise Definitionen für seine Kategorien festlegt und notfalls neue, zusätzliche Kategorien erstellt, wenn Einzelfälle den vorhandenen Definitionen nicht genügen, ist der Vater der diagnostischen Inflation. Denn um die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass die Kliniker bei bestimmten Diagnosen in ihrem Urteil übereinstimmten, teilte das DSM-III den Kuchen in sehr viele schmale, leicht verdauliche Scheibchen – und erhöhte damit die Wahrscheinlichkeit, dass viel mehr Menschen eine psychiatrische Diagnose erhielten. Dazu kommt, dass das DSM-III überaus vereinnahmend war und zahlreiche neue psychische Störungen aufnahm, die auch leichte Symptome an der dichtbesiedelten Grenze zur Normalität erfassten. Und als äußerst diagnosefördernd erwies sich nicht zuletzt der Umstand, dass das DSM-III praktisch über Nacht derart interessant für Kliniker und Patienten geworden war.
Unter den herrschenden Umständen im Jahr seiner Veröffentlichung, 1980, hatte das DSM-III vermutlich ziemlich zielsicher den Mittelweg zwischen Sensibilität (Nichterfassung von Menschen, die einer Diagnose bedürften) und Spezifität (Fehldiagnosen bei Menschen, die nicht krank sind) gefunden. Dass dieses prekäre Gleichgewicht mit einem Mal derart Schlagseite in Richtung Überdiagnostik bekäme, war damals niemandem klar. Von der Pharmaindustrie mit massivem Marketing fleißig begossen und gedüngt, wuchs der Keim der diagnostischen Inflation, den das DSM-III gepflanzt hatte, sehr schnell zu Riesenbohnen heran.
DSM-III-R – zu viel, zu schnell
Das DSM-III -R war die Revision der dritten DSM -Ausgabe, die bereits sieben Jahre später, 1987, erschien. Es sollte eigentlich eine wenig umfangreiche Überarbeitung sein, nicht mehr als eine kleine Zwischenkorrektur der Irrtümer und Auslassungen, die nach der Veröffentlichung der dritten Ausgabe festgestellt worden waren. Wieder leitete Bob Spitzer die Redaktion, und diesmal liefen seine gewaltige Energie und Begeisterung aus dem Ruder. Das Projekt zog sich doppelt so lang hin wie ursprünglich veranschlagt und nahm viele weitreichende Änderungen vor – die alle auf eine Erleichterung der psychiatrischen Diagnostik abzielten. Ich zählte zum inneren Kreis, der Bob bei der Redaktion des DSM-III -R beriet, 26 aber sein Eifer und Enthusiasmus und sein Wille, zu ändern und zu erweitern, waren nicht zu bremsen.
DSM-III -R war ein Fehler und ein Irrweg. Ein Ziel des DSM-III war es gewesen, eine sozusagen Linnésche Systematik (ein »Periodensystem«) objektiv definierter psychischer
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