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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
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Überprüfungssystem. Dass wir es versäumten, eine der formellen Schutzmaßnahmen gegen Interessenskonflikte zu ergreifen, war ein dummer Fehler – in den noch recht unschuldigen Tagen vor Prozac kam einfach niemand von uns auf die Idee – und ist nicht zu rechtfertigen; ich muss dafür Abbitte leisten. Aber es stimmt einfach nicht, dass ein finanzieller Interessenskonflikt eine unserer Entscheidungen beeinflusst hätte. Tatsache ist, dass unsere rigorose Arbeitsweise uns ebenso gut gegen jeden potenziellen Interessenskonflikt schützte, wie es die gründlichste Überprüfung zustande gebracht hätte, und das lässt sich leicht nachweisen: Dutzende Vorschläge, die Pharmaunternehmen begünstigt hätten, wurden abgelehnt. Nur zwei unserer Entscheidungen kamen letztlich doch der Pharmaindustrie zugute: Das war zum einen eine leichte Lockerung der Kriterien für die Aufmerksamkeitsdefizitstörung und zum anderen die Einführung einer Bipolar-II-Störung. Beide Diagnosen füllten eine klinische Nische, für beide lagen substanzielle wissenschaftliche Nachweise vor, und als die Entscheidung fiel, die beiden aufzunehmen, war kein nennenswerter kommerzieller Vorteil absehbar. Leider wurden beide Entscheidungen später von Pharmaunternehmen ausgenutzt, nämlich nachdem ihnen das Recht zugesprochen worden war, Direktwerbung beim Verbraucher zu machen, und nachdem sie neue, teure Produkte entwickelt hatten, die sie verkaufen wollten – aber das war weder absehbar, noch hätte es sich verhindern lassen. Die Pharmaindustrie hatte nicht den geringsten Anteil an der Redaktion des DSM-IV ; sie hatte aber einen entscheidenden Anteil an der Art und Weise, wie mit ihm Missbrauch getrieben wurde. 32 , 33
    Bei allen DSM -Ausgaben ist die Bilanz gemischt. Ihr nicht zu überschätzendes Verdienst war, dass sie die Verlässlichkeit der psychiatrischen Diagnose verbesserten und eine Revolution in der Forschung auslösten. Leider lösten sie auch eine unkontrollierbare diagnostische Inflation aus, die dem Begriff »normal« von allen Seiten zu Leibe rückt und zu einer massiven Übermedikation mit Psychopharmaka führt.

TEIL II
    MODEDIAGNOSEN KÖNNEN
GESUNDHEITSSCHÄDLICH SEIN

4
    MODEKRANKHEITEN DER VERGANGENHEIT
    Wir sehen die Dinge nicht, wie sie sind,
    sondern wir sehen sie, wie wir sind.
    Talmud
 
    Moden kommen und gehen, auch in der psychiatrischen Diagnostik. Auf einmal scheinen alle dasselbe Problem zu haben. Quacksalbertheorien erklären den jähen Ausbruch; Quacksalbertherapien versprechen Heilung. Und eines Tages verebbt die Epidemie so plötzlich, wie sie gekommen ist, und die bis dahin allgegenwärtige Diagnose wird nicht mehr erwähnt. 1
    Modediagnosen entstehen aus der Kombination von plausibler Idee und unserem Nachahmer- und Herdentrieb. Wie die Schwankungen auf dem Aktienmarkt sind sie wahrscheinlich in Zeiten der Instabilität, Unsicherheit, Veränderung am häufigsten. Die Ursachen können verschiedene sein; sie sitzen tief und sind fester Bestandteil des Menschseins, oder sie sind spezifische Reaktionen auf eine bestimmte historische Entwicklung, auf das Erscheinen eines populären Buchs oder Films oder auf eine neue ärztliche Therapie. Manches irrige Verständnis von psychischer Störung überdauerte Jahrtausende, andere Interpretationen hielten sich nur ein paar Jahrzehnte. Besessenheit ist eine so starke und plausible Erklärung für befremdliche Gefühle, Gedanken, Verhaltensweisen, dass der Dämonenglaube zu allen Zeiten und an allen Orten immer wieder auflebt. Eine weitaus weniger befriedigende Modeerscheinung ist die multiple Persönlichkeitsstörung – sie kommt nur selten auf und hält sich nie lang.
    Die Menschen ändern sich kaum, ihre Symptome und Verhaltensweisen oszillieren ein wenig, bleiben im Wesentlichen aber über die Zeit hinweg stabil. Was sich ändert, sind die Etiketten: Unsere Bezeichnungen für sie schwanken so extrem wie wechselnde Moden in der Musik oder der Länge der Röcke. Symptome und Beschwerden sind real – aber wir verheddern uns manchmal in Erklärungen und Etiketten, die schlichtweg falsch sind, wenn auch sehr überzeugend.
    Uns vergangener Modeerscheinungen bewusst zu sein ist ein gutes Mittel, um uns eine gesunde Skepsis gegenüber der jeweiligen »Diagnose des Tages« zu bewahren: Nichts wappnet uns besser gegen gedankenlosen Gehorsam gegenüber jeder aktuellen oder künftigen Mode als die Erkenntnis, wie verheerend und schädlich frühere Moden waren. Die Geschichte

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