Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Ermessensspielraum ein.
Auch gab es praktisch keine Weisung seitens der APA , weder bezüglich der Auswahl der Kollegen, die mit mir am DSM-IV zusammenarbeiteten, noch im Hinblick auf das redaktionelle Vorgehen. Von Natur aus neigt man ja dazu, Freunde anzuwerben, weil es einfach mehr Spaß macht, mit Leuten zu arbeiten, die man mag und denen man die vielen unbezahlten Überstunden, die in die Arbeit investiert werden müssen, zumuten kann. Ich beschloss, genau andersherum vorzugehen, denn ich wollte bei den Themen, die nach meiner Erwartung die umstrittensten wären, auch alle gegenteiligen Ansichten hören. Aber dazu hat mich niemand gezwungen.
Wir setzten uns für das DSM-IV 27 extrem bescheidene Ziele: strengste Sorgfalt, Objektivität und Transparenz bei der Entscheidungsfindung. Keine Innovationen, keine persönlichen Hinzufügungen. 28 Ich ging davon aus, dass wir, wenn wir uns eine hohe wissenschaftliche Beweislast auferlegten, wenig Änderungen vornehmen müssten, weil es keine stichhaltigen Gründe dafür gäbe. Daten stechen einem selten ins Auge oder packen einen an der Kehle, um ein Umdenken zu erzwingen. Seltsam war, dass die APA so wenig Vorstellungen von meinen Zielen hatte und so wenig daran interessiert war, die Richtung des DSM-IV mitzubestimmen. Das war ein Fehler. Niemand sollte ganz allein über die Zukunft eines derart einflussreichen diagnostischen Systems entscheiden dürfen. Die vielfältigen Probleme, von denen das DSM -5 befallen ist, zeigen anschaulich, welche Risiken mit unkontrollierter, potenziell eigenmächtiger Führung verbunden sind.
Was die Frage nach dem Führungsstil aufwirft. Ich folgte den Fußstapfen eines charismatischen Vorgängers, der ein leidenschaftliches Interesse an jeder einzelnen Frage hatte und die Kontroversen um jedes einzelne Thema liebte. Als die Aufgabe darin bestanden hatte, ein radikal neues diagnostisches System aus dem Boden zu stampfen, war Bobs Vorgehensweise richtig gewesen, aber Kreativität und Innovation waren nicht die Fähigkeiten, die es für die Überarbeitungs- und Korrekturgänge bezüglich DSM-III -R und -IV am vordringlichsten brauchte. Die jeweils sieben Jahre, die zwischen DSM-III , DSM-III -R und DSM-IV lagen (1980, 1987 und 1994), hatten keine zwingenden wissenschaftlichen Erkenntnisse gebracht, die eine einschneidende Revision des diagnostischen Systems gerechtfertigt hätten. Deshalb sah ich mich eher als Nachbesserer und Bewahrer, nicht als Neuerer. Die Auflage, dass für jede Änderung überzeugende wissenschaftliche Argumente vorliegen mussten, ließ die Frage nach Persönlichkeit und Führung in den Hintergrund treten. Ich stellte ein unpersönliches System auf die Beine, das selbsttätig arbeiten sollte, um Kontroversen zu vermeiden beziehungsweise beizulegen. Entscheidungen sollten nicht durch kollidierende persönliche Überzeugungen zustande kommen, sondern strengen Regeln folgen. Ein Arbeitsgruppenmitglied wurde als »Konsensprüfer« definiert, der sich nicht lautstark für eine Sache einsetzen oder sich zum diagnostischen Pfadfinder und Neuerer aufschwingen, sondern still Forschungsergebnisse studieren und analysieren sollte.
Ich mag Streitereien nicht, ich halte sie für unproduktiv: Sie erzeugen viel Hitze und nur sehr selten Licht. Wir vertraten also den realistischen Standpunkt, dass jede anhaltende Uneinigkeit hinsichtlich der Auslegung von Daten dahingehend zu interpretieren sei, dass die wissenschaftliche Literatur in der jeweiligen Frage zu spärlich oder zu zweideutig sei, um eine Änderung zu rechtfertigen. Änderungen würden nur vorgenommen, wenn es zwingend notwendig wäre und die Forschung in der jeweiligen Frage mehrheitlich übereinstimmte. Das war nicht sehr oft der Fall. Wenn sich abzeichnete, dass keine Einigung zu erzielen war, entschieden wir uns für den Status quo. Abgestimmt wurde nicht, und ich erinnere mich an keine ernsthaften Unstimmigkeiten.
Mehrere Hundert willensstarke Experten an ein Projekt zu setzen kann ein Rezept für Anarchie sein. Das Gegengift bestand darin, Standardverfahren einzuführen und dafür zu sorgen, dass alle sich streng daran hielten. Alle zeitlichen Vorgaben standen fest, ehe wir mit der Arbeit am DSM-IV begannen. Mehrere Besprechungen über die Methodik sorgten dafür, dass jedes Verfahren einheitlich durchgeführt würde. Die Auflagen für Änderungen waren klar, einheitlich und streng. Neue Vorschläge mussten einen dreistufigen Hindernislauf passieren, andernfalls
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