Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
die um 1980 begann und bis in die späten Neunzigerjahre anhielt.
Tanzwut: Tarantismus und Veitstanz
(Zeit: ca. 1300 bis 1700)
Tanzkrankheiten traten in zwei recht ähnlichen Formen auf: In Süditalien, speziell Apulien, hieß die Tanzwut Tarantismus, in Nordeuropa Veitstanz. Die Symptome waren eine Kombination aus Schwermut, Wahnvorstellungen, Kopfschmerz, Ohnmachten, Atemnot, Zuckungen, Appetitlosigkeit, Wundsein, Schwellungen und Todesahnungen in unterschiedlicher Zusammensetzung. Im Süden wurde ein Biss der in der Gegend endemischen Tarantel oder Apulischen Wolfsspinne dafür verantwortlich gemacht. Die Tanzwut brach meist auf dem Höhepunkt des Sommers aus, und es hieß, dass Hitze die toxische Wirkung des Spinnengifts verstärke. Der nördliche Veitstanz hingegen ging mit mehr oder minder denselben Symptomen einher, wurde auch auf ähnliche Weise behandelt, allerdings mit einer stärkeren religiösen Komponente: Der heilige Veit, einer der vierzehn Nothelfer und Schutzpatron unter anderem der Apotheker und Tänzer, wurde bei Krämpfen aller Art und Herkunft angerufen.
Empfohlene Therapie war die »Tarantella«, ein rasend schneller, schwindelerregender Tanz, zu dem Musiker aufspielten, während der Gebissene bis zur völligen körperlichen Erschöpfung tanzte, um das Spinnengift auszutreiben. Dutzende, Hunderte, ja Tausende Menschen nahmen an der Gruppenepidemie und -kur teil, die sich ohne Unterbrechung über Stunden, Tage, sogar Wochen hinziehen konnte. Alkohol floss in Strömen, und auch der Schlafentzug spielte eine Rolle. Es war oft schwer, die Nebenwirkungen der Behandlung von den Symptomen der Krankheit zu trennen. Die Menschen verhielten sich sonderbar, rissen sich die Kleider vom Leib, schrien, kreischten, lachten oder weinten haltlos, machten unverhohlen sexuelle oder animalische Gesten. Anders als die Therapien, die bei sonstigen Geisteskrankheiten angewandt wurden (wie Aderlass, Klistiere, Quecksilbervergiftung), mag die Tanzwut auch heilsame Wirkungen gehabt haben, vermittelt durch kräftezehrenden Körpereinsatz, Katharsis, Ablenkung, Gruppenzusammenhalt.
Die Tanzwut hielt sich rund vierhundert Jahre und starb nach 1700 aus; seither wurde nur noch von sporadischen Einzelfällen berichtet. Das Leben in dieser von Hungersnot, Pest, Kriegen, Räuberunwesen gezeichneten »kleinen Eiszeit« war mühselig, und die Tanzwut mag Symptom und Kur zugleich gewesen sein, sowohl für eine individuelle Psychopathologie wie für die dauernden Katastrophen der Gemeinschaft. 3
Vampirhysterie (Zeit: ca. 1720 bis 1770)
Die Furcht vor Vampiren reicht weit zurück und sitzt tief in der menschlichen Psyche. Schon immer standen wir vor dem fundamentalen Problem: Was tun wir mit den Toten und wie erklären wir uns, was ihnen passiert ist? Auf diese existenzielle Frage gibt sich jede Kultur eine eigene Antwort und entwickelt aufwendige Bestattungsrituale und folkloristische Theorien, um mit der möglicherweise durchlässigen Grenze zwischen Leben und Tod zurechtzukommen.
An Schärfe gewann das Problem, als nomadische Jäger und Sammler sesshaft wurden und Ackerbau betrieben und mehr oder minder auf ihren Toten lebten. Früher hatte man Leichname praktischerweise einfach zurücklassen können, wenn der Stamm weiterzog. Angesichts der erzwungenen Nähe aber begann man die toten Vorfahren zu fürchten und folglich auch zu verehren. Wenn jemand krank wurde, wenn etwas schiefging, bestand Grund zu der Sorge, die Toten (die unter der Erde lebten und vielleicht neidisch oder rachsüchtig oder einfach unzufrieden waren) könnten sich wieder erheben und ihr Pfund Fleisch einfordern.
Der Vampirglaube nimmt diese Furcht wörtlich – Krankheit bei den Lebenden wurde darauf zurückgeführt, dass die (nicht so) verstorbenen (nicht so liebevollen) einstmals Geliebten zurückkamen, um Blut zu trinken. In Mitteleuropa umfasste der Vampirismus als Modeerscheinung einen Zeitraum von fünfzig Jahren im 18. Jahrhundert. Die intellektuelle Ruhe im Zeitalter der Aufklärung war nur eine dünne Schicht Lack über dem tief verwurzelten Aberglauben, der das turbulente, kaum erst dem Feudalismus entwachsene, vorwiegend ländliche Europa beherrschte. Der Vampirismus entstand, als die slawischen Völker ihre Märchen von den »Untoten« den neuen Nachbarn im expandierenden Habsburg mündlich weitererzählten und die diensteifrigen, aber leider allzu bürokratischen österreichischen Beamten die Geschichten wörtlich nahmen. Nach den
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