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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
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nämlich unseren strengen Beweisregeln, die das Vorliegen umfangreicher, zwingender wissenschaftlicher Daten forderten, ehe eine Änderung in die eine oder andere Richtung möglich war. Die Regeln waren eine notwendige Hürde, um willkürliche Entscheidungen ebenso zu verhindern wie den natürlichen Wunsch der Experten, das eigene Fachgebiet auszuweiten, aber was zur Eindämmung der diagnostischen Inflation diente, erschwerte umgekehrt auch die Deflation. Das war wahrscheinlich ein Fehler, muss ich aus heutiger Sicht zugeben. Es wäre besser gewesen, einen Doppelstandard einzuführen und den wissenschaftlichen Beweiszwang dort, wo das Ziel eine Deflation des diagnostischen Systems war, zu lockern. Gewiss, eine Deflation wäre schwierig gewesen und wohl auch willkürlich, aber aus heutiger Sicht scheint alles besser als die exzessive Diagnostik und Behandlung, die seither Fuß fassen konnte, weil wir eisern am wissenschaftlichen Nachweis festhielten.
    Und natürlich hätten wir die Alarmglocken läuten sollen. Wir hätten uns viel mehr engagieren müssen, um die Kollegenschaft und potenzielle Patienten über die Risiken der Überdiagnostik aufzuklären. Wir hätten im DSM-IV an prominenter Stelle vor Überdiagnostik warnen und Tipps zu deren Vermeidung geben müssen, hätten über öffentliche und fachliche Tagungen und Aufklärungskampagnen der Propaganda der Pharmaunternehmen entgegenwirken müssen. Nichts dergleichen fiel damals irgendjemandem ein. Dass die Pharmawerbung drei Jahre nach Veröffentlichung des DSM-IV regelrecht explodieren würde, dass sich ADHS , Autismus und bipolare Störung zu flächendeckenden Epidemien auswachsen würden, hatte sich niemand auch nur träumen lassen – und deshalb kam auch niemand auf die Idee, dieser Entwicklung einen Riegel vorzuschieben. Wir dachten, wir hätten mit der Redaktion des Handbuchs ganz gute Arbeit geleistet, und fühlten uns nicht dafür verantwortlich, dass es auch verantwortlich genutzt wurde. Der Zug ist abgefahren. Selbst wenn wir schlauer und kämpferischer gewesen wären, hätten wir den Tsunami der Überdiagnostik wahrscheinlich nicht aufhalten können. Die Pharmariesen waren einfach zu riesig, zu reich und politisch zu mächtig. Aber ich bereue zutiefst, dass wir es nicht wenigstens versucht haben.
    Welche Bilanz ziehe ich also? Eine ambivalente jedenfalls. Auf der Positivseite steht: Wir ließen sehr wenig Änderungen zu, entwickelten eine akribische Arbeitsweise, verbesserten die Präzision des Texts und der Codierung, begingen nur einen offenkundigen Fehler. Auf der Negativseite: Unsere Änderungen leisteten den falschen Epidemien Autismus, Aufmerksamkeitsdefizit und bipolare Störung Vorschub; wir unternahmen nichts, um die Überdiagnostizierung etlicher anderer Störungen zu verhindern, die von den Pharmaunternehmen künstlich in die Höhe getrieben wurden; und der eine eindeutige Fehler war ein Desaster: ein nachlässig formulierter Abschnitt über Paraphilien (pathologische Störungen der Sexualpräferenz), der in den USA den weit verbreiteten, verfassungswidrigen Missbrauch der psychiatrischen Zwangseinweisung ermöglicht hat. Natürlich hätte es schlimmer kommen können. Aber wir hätten uns mehr bemühen müssen, unbeabsichtigte Konsequenzen vorherzusehen und die anhaltende diagnostische Inflation zu verhindern. Dass wir uns um absolute methodologische Strenge bemühten, bewahrte uns zwar vor den meisten Irrtümern, ließ uns aber schwerwiegende Unterlassungssünden begehen. Anders ausgedrückt: Wir richteten nicht viel Schaden an, waren aber auch nicht besonders hilfreich. Mit dem abgeschlossenen DSM-IV war ich seinerzeit ziemlich zufrieden. Jetzt wünschte ich, wir hätten mehr für die Rettung der Normalität getan, damit die Pharmaunternehmen nicht ganz so leicht absahnten.
    Zu Recht wurde nach den Beweggründen der Mitarbeiter am DSM-IV gefragt: War ein finanzieller Interessenskonflikt schuld daran, dass wir die diagnostische Inflation auf die leichte Schulter nahmen? Anlass zu dieser Sorge gibt eine Untersuchung aus jüngster Zeit, der zufolge 56   Prozent unserer Experten eine finanzielle Verbindung mit der Pharmaindustrie unterhielten. Es wurde behauptet, dass die Unternehmen hinter den Kulissen entweder direkt oder auf Umwegen die Fäden gezogen hätten, um Entscheidungen zugunsten von mehr Diagnose und mehr Therapie zu beeinflussen. Die Frage ist sicher legitim: Wir hatten keinen Konflikt mit Interessenspolitik oder dem

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