Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
wurden sie aussortiert. Stufe 1 war eine Überprüfung der Fachliteratur, mit der sorgfältig alle vorliegenden wissenschaftlichen Daten gesichtet wurden; besonderes Augenmerk wurde dabei auf die möglichen Risiken und unbeabsichtigten Folgen jeder Änderung gelegt. Stufe 2 bestand in einer Reanalyse der Daten, die mit einem Stipendium der MacArthur-Stiftung finanziert wurde. Dies verschaffte uns Zugang zu bereits erfassten, aber noch nicht ausgewerteten Daten, die auf den Festplatten von Forschern rund um die Welt lagerten. Wir konnten im Zusammenhang mit geplanten Neuaufnahmen ins DSM-IV Fragen stellen, für die es in der veröffentlichten Literatur noch keine Antworten gab. Stufe 3 waren von unbeteiligten Kollegen begutachtete und vom NIMH finanzierte Praxistests für zwölf Störungen, bei denen wir Änderungen ins Auge gefasst hatten. Ziel war es, die erstellten Alternativkriterien zu testen und zu sehen, wie sie unter Bedingungen abschnitten, die sich der Wirklichkeit näherten (ohne ihr genau zu entsprechen).
Die Rolle der Kommissionsleitung war die Qualitätskontrolle. Wir entschieden nicht über Themen, sondern achteten darauf, dass sowohl die Regeln als auch sämtliche Fristen eingehalten wurden. Das Ergebnis der methodologischen Sorgfalt entsprach exakt unseren Erwartungen. Die Lieblingsvorschläge der Experten wurden durchweg abgeschossen, weil sie wissenschaftlich nicht haltbar waren. Das DSM-IV blieb dem DSM-III -R treu.
Unsere Arbeit war von Anfang bis Ende ein offenes Buch mit extrem durchlässigen Grenzen. Jeder, der ein Interesse am DSM-IV hatte, konnte zu jedem Zeitpunkt Berater werden. Mitglieder der Arbeitsgruppen wurden zu rückhaltloser Kommunikation mit ihren Kollegen ermutigt.
Als wir Halbzeit hatten, wurde ein sogenanntes »Alternativenbuch« veröffentlicht, das allen Mitarbeitern Gelegenheit gab, die vorgeschlagenen Änderungen zu überprüfen und gegebenenfalls abzulehnen. Außerdem gaben wir ein ausführliches, vier Bände umfassendes DSM - IV -Quellenbuch heraus, in dem wir unser Archivmaterial veröffentlichten: die gesamte ausgewertete Fachliteratur, Reanalysedaten, Praxistests, Argumente für Entscheidungen. 29 Wie wir noch sehen werden, ging das DSM -5 insofern weit in die Irre, als es bis ganz zum Schluss strenge Geheimhaltung trieb und sich Verbesserungen von außen verschloss.
Wir sahen das DSM-IV als Wegweiser, nicht als Bibel; für uns war es nicht ein Katalog »echter« Krankheiten, sondern eine Sammlung diagnostischer Konstrukte, die für eine gewisse Zeit hilfreich sind. In der Einleitung 30 und noch ausführlicher im Leitfaden zum DSM-IV versuchten wir dies unmissverständlich klarzumachen. Aber liest eigentlich jemand Einleitungen? Dass nur sehr wenige den Leitfaden gelesen haben, weiß ich leider. 31 Man sollte die DSM -Kategorien wirklich nicht anbeten; aber sie zu kennen macht einen besseren Kliniker.
Das DSM-IV hat die Normalität nicht gerettet, es hat sie nicht einmal sehr gut beschützt. Drei Jahre nach der Veröffentlichung trugen die Lobbyisten der Pharmaindustrie einen gewaltigen Sieg davon – sie setzten sich gegen vernünftige Regulierung durch: Die USA sind das einzige Land der Welt, in dem direkt an den Verbraucher gerichtete Arzneimittelwerbung erlaubt ist. Sehr bald strotzten die Print- und die audiovisuellen Medien von der eklatant irreführenden, in allerlei Variationen vorgetragenen Behauptung, unsere Alltagsprobleme seien in Wahrheit nicht erkannte psychiatrische Störungen. Das DSM-IV erwies sich als sehr schwacher Deich und war der Flut der Nachfrage, die eine aggressive und teuflisch schlaue Pharmawerbung ausgelöst hatte, nicht gewachsen. Zwar hatten wir Vorschläge, die Pharmaunternehmen zugutegekommen wären, durchweg abgelehnt, aber dass sogar unser konservatives Handbuch eine gemähte Wiese für die Pharmaindustrie werden könnte, hätten wir im Leben nicht gedacht. Binnen weniger Jahre war klar, dass die Pharmaunternehmen gewonnen und wir verloren hatten.
Es hätte Maßnahmen gegeben, die wir hätten ergreifen können (und wahrscheinlich sollen), um die diagnostische Inflation wenigstens einzudämmen. Vor allem hätten wir die diagnostischen Schwellen anheben (mehr Symptome über längere Dauer, stärkere Beeinträchtigung durch die jeweilige Störung) und es den Unternehmen damit schwerer machen können, Diagnosen zu verkaufen. Aber wir hatten uns in unserer eigenen, vielleicht zu unparteiischen, zu konservativen Schlinge gefangen,
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