Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Empfehlungen ihrer serbischen Gewährsleute stellten sie Untersuchungen an, führten Exhumierungen durch und schritten pflichtbewusst zur Pfählung von Leichnamen. Bald kursierten gewissenhaft erstellte Kataloge über die besten Methoden zur Exekution von Vampiren. Solcherart legitimiert, griff die Furcht vor den Untoten wie ein Lauffeuer von einem Dorf aufs andere über. Bald entdeckten die Schriftsteller das Thema und ersannen eine schaurige Vampirliteratur, die Öl ins Feuer goss und die Zahl der gesichteten Vampire in schwindelerregende Höhen trieb. 1721 wurde in Ostpreußen, in den 1720er- und 1730er-Jahren im ganzen Habsburger Reich von angeblichen Angriffen berichtet; 1734 ging durch einen Reisebericht aus Mitteleuropa der »vampire« auch in den englischen Sprachraum ein. Der Vampirismus war die erste mediengeschürte Mode der Geschichte, aber nicht die letzte.
Was die Vampirängste noch verschärfte, war die manchmal schwierige Unterscheidbarkeit von Lebenden und Toten. Bis vor nicht allzu langer Zeit war die Feststellung des Todes in Ermangelung einer geeigneten Medizintechnik häufig Gegenstand von Spekulation und Auseinandersetzungen. In einer Welt ohne Stethoskope war die Grenze zwischen Leben und Tod tatsächlich unklar, und man fürchtete nicht nur die Untoten, sondern hatte Angst, womöglich selbst lebendig begraben zu werden. Häufig wurden Grabwächter abgestellt, die nicht nur die Abschreckung von Grabräubern zur Aufgabe hatten, sondern auch auf etwaige Anzeichen zurückgekehrten Lebens achten sollten. Die aufmerksame Beobachtung von Leichen tat das Ihre zur Legendenbildung um den Appetit und Lebenswillen über den Tod hinaus. Tote unterscheiden sich erheblich in der Geschwindigkeit und im Ausmaß der Zersetzung, manchmal sieht man eine Zeit lang tot besser aus als jemals im Leben – zumal wenn sich der ausgezehrte Körper des Sterbenden nach dem Tod mit Fäulnisgasen füllt. Der mitunter entstehende rötliche Teint könnte als Beweis dafür gedeutet werden, dass der Leichnam sich warmes Blut zu Gemüte geführt hat; und wenn ihm dann noch Blut aus Mund oder Nase sickerte, war der nicht unlogische Verdacht bestätigt.
Die Maßnahmen zur Beseitigung von Vampiren waren abscheulich für die Lebenden wie für die Toten. Wurden Vampire noch lebend gefangen, so fanden nach vorheriger Folter grausamster Art öffentliche Hinrichtungen statt. Opfer waren die üblichen Verdächtigen – Geisteskranke, Schwachsinnige, vermeintliche Hexen (wahrscheinlich Kräuterkundige), Todessehnsüchtige, erklärte Irrgläubige und jeder, der womöglich zur falschen Zeit am falschen Ort war oder den falschen Feind hatte.
Heilung von diesem Wahn nahte in Gestalt Maria Theresias, der klugen österreichischen Kaiserin. Mit einer gründlichen Untersuchung ging ihr Leibarzt der Frage auf den Grund, ob Vampire tatsächlich existierten, und kam zu dem Schluss, dass die Furcht jeglicher Grundlage entbehrte. Die Kaiserin stellte daraufhin Exhumierungen unter strenge Strafen, und der Vampirismus verebbte. Nur hier und dort brachen noch vereinzelte, örtlich begrenzte Epidemien aus – in den letzten Jahrzehnten in Puerto Rico, Haiti, Mexiko, Malawi und, ausgerechnet, in London. 4
Selbstmordwellen infolge des »Werther-Fiebers« (erstmaliges Auftreten 1774, Rezidive bis in die Gegenwart)
Nichts zeugt klarer von der Macht der Literatur (oder der Gefahr von Modekrankheiten) als die tödliche Wirkung von Goethes Roman Die Leiden des jungen Werthers , erschienen 1774. 5 Die teilweise autobiografische Geschichte von unerwiderter Liebe und Freitod als Gegenmittel löste ein bis dahin unbekanntes Phänomen aus: Werther wurde zur Kultfigur, das »Werther-Fieber« breitete sich über Europa aus, und die davon befallenen jungen Leute kleideten sich wie ihr Held, ahmten seine Sprache und sein Verhalten nach, einige folgten ihm sogar in den Tod. Sein Autor hingegen überwand sein Liebesleid, erreichte ein hohes Alter und bedauerte die Schäden, die er mit seiner Romanfigur womöglich verursacht hatte.
Nachahmungssuizid folgt zwei recht unterschiedlichen Mustern – er tritt in Wellen und in Massen auf. Selbstmordwellen entstehen, wenn der Suizid entweder einer prominenten Person oder eines Verwandten, Freundes, Mitschülers, Kollegen kopiert wird. Die Furcht vor Ansteckung ist immerhin so real, dass sie die US- amerikanische Gesundheitsbehörde Centers for Disease Control ( CDC ) veranlasste, Richtlinien für die Berichterstattung
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