Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
wiederholt sich niemals exakt, denn ihre komplexen Wechselwirkungen bergen immer auch die Möglichkeit, dass es anders kommt; Tatsache ist aber auch, dass bei gleicher Versuchsanordnung immer wieder ähnliche Ergebnisse erzielt werden, denn die Kräfte, die menschliches Handeln bestimmen, sind ziemlich stabil, auch wenn die äußere Erscheinung wandelbar ist. Je mehr wir über die Ergebnisse der Vergangenheit wissen, desto besser sind wir gegen gedankenlose Wiederholungen in der Zukunft gefeit.
Besessenheit (Zeit: früher, heute, immer)
Dass ein Dämon, ein Teufel, ein Geist in den Leib eines Unglücklichen fährt und von ihm Besitz ergreift, ist die älteste Modeerscheinung der Menschheit und auch die neueste; sie taucht bereits in den ältesten schriftlichen Dokumenten auf und steht noch heute in der Zeitung. Teufels- und Dämonenglaube mag ein Ergebnis von Unwissenheit sein – aber er ist ein allzu verlockendes Modell, als dass er jemals ganz aus der menschlichen Vorstellung verschwände, und er macht den kargen Tröstungen des rationalen Denkens, der Mehrheitsreligion, der Psychiatrie immer noch harte Konkurrenz. In der einen oder anderen Form wird er uns immer begleiten, und hin und wieder verdichtet er sich zu einer Mode und dringt in den Zeitgeist ein, manchmal mit verheerenden Ergebnissen. 2
Die wahre Schönheit einer Besessenheit ist nicht, dass sie Probleme beschreibt, sondern dass sie eine zwingende Erklärung ihrer Ursache und einen naheliegenden Heilungsvorschlag liefert. Ein böser Geist hat von einem Menschen Besitz ergriffen; er beherrscht seine Gedanken und Gefühle, sein Verhalten; und er erzeugt eine Wundertüte von Symptomen, die sich in mindestens ein Dutzend verschiedene psychische Störungen nach dem DSM unterteilen lassen. Ein moderner Psychiater kann die Schizophrenie beschreiben; erklären kann er sie nicht. Der Medizinmann oder Priester ist in einer viel machtvolleren Lage. Er besitzt sicheres Wissen um die Ursache der Symptome und weiß eine spezifische Kur, die den Patienten vom Dämonenbefall wieder befreit. Die Austreibung eines Dämons kann sehr gut funktionieren, wenn sowohl Exorzist wie Besessener daran glauben.
Der Dämonenglaube kommt in allen Kulturen vor und hält sich zäh durch alle Epochen, weil so viele Menschen so viel damit anfangen können: Offensichtlich erfüllt er ein Grundbedürfnis der menschlichen Psychologie und erklärt vieles im menschlichen Erleben einfach und plausibel. Der Kampf gegen Dämonen spricht das religiöse Denken an, heilt die meisten Symptome, die uns quälen, erwirkt Seelenheil und stärkt den Zusammenhalt des Stammes. Dämonen sind zwar eine vorwissenschaftliche, aber vollkommen logische Erklärung für die Veränderungen, die mit körperlichen und seelisch-geistigen Krankheiten einhergehen (auch mit Rauschmitteln, Träumen, Trancezuständen). Nur wir Kinder der Aufklärung, die auf biologischen Ursachen von absonderlichem Verhalten beharren, halten Dämonen für Aberglauben. Allerdings hat diese ansonsten nützliche diagnostische Kategorie eine leider unvermeidliche Schattenseite – sie hat den idealen Vorwand für Verfolgung, Folterung und Ermordung Geisteskranker geliefert. Die allerunmenschlichsten Quälereien ließen sich als heiligen Kampf gegen den Teufel rechtfertigen.
Wir könnten die moderne psychiatrische Diagnose und Besessenheit als entgegengesetzte Erklärungen für die Kausalität gestörten Verhaltens betrachten: Was den einen eine Erkrankung des Gehirns ist, erscheint den anderen als das Werk von Geistern. In der entwickelten Welt bereitet die moderne Wissenschaft den meisten Menschen kein Unbehagen mehr. Aber einigen schon: Mehr als ein Drittel der Amerikaner sind überzeugt, dass Dämonen und Engel in ihrem Alltag eine aktive Rolle spielen. Und aus der Sorge heraus, dass Opfer einer Besessenheit von Psychiatern fälschlich als schizophren diagnostiziert werden könnten, haben moderne Exorzisten detaillierte Diagnosehandbücher ins Netz gestellt, die genaue Anleitungen geben, wie der Teufel hinter der Krankheit aufzuspüren ist. Die katholische Kirche hat inzwischen von ihrem Dämonenglauben weitgehend abgelassen und empfiehlt Exorzismus nur dann, wenn psychische Krankheiten zuvor explizit ausgeschlossen wurden. Im kriegsgeschundenen Afrika kommt es immer wieder zu Ausbrüchen von Dämonenglauben, während die letzte Epidemie in den USA im Gefolge der Hysterie um den »satanistischen rituellen Missbrauch« ( SRA ) auftrat,
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