Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
die Regel gesetzt, keine Änderungen allein aufgrund persönlicher Meinungen zuzulassen. Ich hielt also mit meiner Auffassung hinter dem Berg, und wir ließen die MPS im Buch – aber wir achteten peinlichst darauf, beide Seiten der Kontroverse so fair und so exakt wie möglich darzustellen, auch wenn ich die eine Seite für kompletten Schwachsinn hielt. Zum Glück hat die Welt unterdessen von der multiplen Persönlichkeit abgelassen, zumindest vorübergehend: Es würde mich nicht wundern, wenn es in der Zukunft wieder zu einer Epidemie käme. Derzeit ruht die multiple Persönlichkeit; das ändert aber nichts daran, dass die Diagnose auf suggestible Patienten und suggestible Therapeuten einen nachhaltigen Reiz ausübt. Vom Ausbruch einer neuen MPS -Seuche trennen uns vielleicht nur ein Kassenschlager im Kino und ein paar Wochenendfortbildungen für Therapeuten. In ein, zwei Jahrzehnten, wenn eine neue Generation von Therapeuten herangewachsen ist, die von den Lektionen der Vergangenheit nichts mehr weiß, könnte es wieder so weit sein.
Hexenjagden: Sexueller Missbrauch in Kitas
(Zeit: ca. 1980 bis 2000)
In den USA waren die Kindesmissbrauchsskandale (die gleichzeitig mit der Modekrankheit der multiplen Persönlichkeit auftraten und manchmal mit ihr in Beziehung standen) eine erschreckende Wiederholung der Hexenprozesse von Salem. Beide Epidemien, die mit einem zeitlichen Abstand von ziemlich genau dreihundert Jahren ausbrachen, spiegelten die schlimmste Seite der menschlichen Natur und setzten sich aus den gleichen Ingredienzien zusammen, nämlich Furcht, hasserfüllten Anklagen, geiferndem Puritanismus, Suggestion, Projektion, Gruppenansteckung und den offensichtlich hanebüchenen, aber für bare Münze genommenen und mit mehr oder weniger Nachdruck herbeigeführten Aussagen von Kindern. Die Hexenprozesse von Salem in den Neunzigerjahren des 17. Jahrhunderts wurden von rechtschaffenen, aber fehlgeleiteten und destruktiven puritanischen Geistlichen betrieben; in den USA der 1990er wurde die Epidemie von wohlmeinenden, aber fehlgeleiteten und destruktiven Therapeuten begünstigt – natürlich mit Unterstützung von Eltern, Polizeibeamten, Staatsanwälten, Richtern und Geschworenen, die einer kollektiven Unvernunft zum Opfer gefallen waren. Es ist eine entmutigende Geschichte, ein haarsträubender Justizirrtum und ein bestürzendes Versagen unserer Zivilgesellschaft.
Die Fälle folgten alle dem gleichen niederschmetternden Drehbuch. Die Epidemie brach 1982 im kalifornischen Kern County aus und hatte binnen eines Jahrzehnts wie ein Flächenbrand auf das ganze Land (und in geringerem Ausmaß auf die Welt) übergegriffen. Die Anschuldigungen richteten sich gegen Mitarbeiter von Kindertagesstätten, die angeblich ihre Schutzbefohlenen sexuell missbrauchten, häufig auf schockierendste, bizarrste Weise. In jedem Fall bildeten aberwitzige Behauptungen von sehr kleinen Kindern die Beweisgrundlage; körperliche Spuren waren nicht nachzuweisen, und bekräftigende Aussagen glaubwürdiger Zeugen gab es nicht. Die Erstbeschuldigung erfolgte in der Regel durch einen rachsüchtigen oder gestörten Ankläger – meist ein Eltern-, Stief- oder Großelternteil. Die Panik weitete sich rasch auf andere Eltern und die gesamte Gemeinschaft aus.
Die Aussage der Kinder war eine Konfabulation, die durch lange, wiederholte, gnadenlos zermürbende Befragungen seitens einer von Eltern und Presse angestachelten unheiligen Allianz aus Therapeuten, Polizeibeamten und Staatsanwälten zustande gekommen war. Bei den Vernehmungen gaben die Befrager eindeutig die Richtung vor, sie waren suggestiv, zuzeiten sogar nötigend: Sie wussten im Voraus, welche Schrecklichkeiten sich ereignet hatten, und legten sie dem Kind samt den schmutzigen Details praktisch in den Mund, sie teilten ihm mit, was andere Kinder ausgesagt hatten, und forderten mit Nachdruck Anpassung und Bestätigung. Die Geschichten, die verschiedene kindliche Zeugen erzählten, speisten sich selbstverständlich voneinander und vereinigten sich nach und nach zu einem scheinbar konsistenten, vernichtenden Bild. Eine Neuauflage von Salem.
Nie fehlte es an schaurigen Einzelheiten, um die Lücken in der kindlichen Fantasie oder der kollektiven Erinnerung an Vorgefallenes zu füllen. Gelangte die Kreativität eines Befragers oder Kindes an ihre Grenzen, so schufen sogleich die Medien Abhilfe, die ausführlich von den Anklagen in anderen Fällen berichteten; und dieselben Medien
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