Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
die Kinderbetreuung zur festen Einrichtung im amerikanischen Alltag geworden. Zweifellos spielten elterliche Schuldgefühle wegen der Abtretung elterlicher Verantwortung mit. Aufseiten der Therapeuten bestand die Befürchtung, dass man frühere Aussagen von Kindern, die tatsächlich sexuell missbraucht worden waren, nicht ernst genug genommen hatte. Auch gab es zu viele Therapeuten mit zu wenig Erfahrung, denen es dennoch gelang, sich als »Experten« zu gerieren und als solche anerkannt zu werden. Diese traurige Episode mag als die allerdeutlichste Warnung an jede Therapeutin und jeden Therapeuten dienen, sollten sie jetzt oder in Zukunft jemals die Anwandlung verspüren, auf den Zug einer Modekrankheit aufzuspringen.
Dem Rudel hinterher
Wir sollten uns nicht wundern, dass die psychiatrische Diagnostik immer derart launisch, derart den herrschenden Trends unterworfen war und ist. Moden beeinflussen jeden Aspekt unseres Verhaltens, und Rudelverhalten liegt nun mal in der Natur des Menschen. Die gute Nachricht ist, dass Moden auch wieder gehen. Vor hundert Jahren kam die Neurasthenie, dann die Hysterie, es folgte die multiple Persönlichkeit. Dann verschwanden alle drei plötzlich auf rätselhafte Weise wieder von der Bildfläche. Die Modediagnosen in der Psychiatrie, die heute so fest verwurzelt wirken, sind weniger widerstandsfähig, als es den Anschein hat, und werden mit der Zeit und mit wachsendem Verständnis für die Risiken ebenfalls dahinwelken. Aber es gibt auch eine schlechte Nachricht. Die meisten Epidemien der Vergangenheit waren isolierte und von Natur aus lokal begrenzte Erscheinungen. Unsere neuen Moden eilen um die ganze Welt, berechnen sich in massivem Geldwert und sind auf dem besten Weg, Teil der gesellschaftlichen Infrastruktur zu werden.
TEIL III
RÜCKKEHR ZUR NORMALITÄT
7
EINDÄMMUNG DER DIAGNOSTISCHEN INFLATION
Für jedes komplexe Problem
gibt es immer eine einfache Antwort,
die klar ist, einleuchtend und falsch.
H. L. Mencken
Die diagnostische Inflation hat zahlreiche, komplexe, miteinander verwobene Ursachen; um sie zu bekämpfen, wird es zahlreiche, komplexe, miteinander verwobene Lösungsansätze brauchen – und das Ergebnis ist äußerst zweifelhaft.
Was getan werden muss, liegt klar auf der Hand, aber Intelligenz allein reicht nicht, es braucht auch die nötige Muskelkraft. Die politischen und finanziellen Muskeln drängen nahezu einmütig in Richtung Abnormität; ihre Antagonisten, die für die Normalität kämpfen, sind viel zu schwach, um ein echtes Gegengewicht darzustellen. Aber Hoffnungen sind nicht immer vergebens, und es kommt doch gelegentlich vor, dass die Sanftmütigen das Erdreich besitzen, vor allem wenn sie das Recht auf ihrer Seite haben. In der Politik und im Gesundheitswesen können ungeahnte Wunder geschehen, die niemand je für möglich gehalten hätte. Gegen jede Wahrscheinlichkeit hat Amerika einen schwarzen Präsidenten, in vielen Ländern der westlichen Welt (und etlichen US- Bundesstaaten) sind gleichgeschlechtliche Ehen erlaubt, Rauchen wird nicht mehr als Zurschaustellung souveräner Lässigkeit bewundert, sondern gilt als schädliches Laster. Wer sagt, dass wir nicht auch die Bestie diagnostische Inflation zähmen und die Welt vor der grassierenden Seuche allgegenwärtiger psychiatrischer Krankheit retten können?
So geht es.
Wir kämpfen gegen die falschen Drogen
Seit vierzig Jahren führen wir einen Krieg gegen Drogenkartelle, den wir auf keinen Fall gewinnen können. 1 Eben erst begonnen hat ein anderer Krieg, unser Krieg gegen den Missbrauch legaler Drogen, den wir auf keinen Fall verlieren dürfen.
Das Verbot illegaler Drogen hat sich als ähnliche Pleite erwiesen wie das Alkoholverbot in den USA in den Zwanzigerjahren. 2 Ab und zu einen Drogenboss verhaften oder Heroin, Kokain, Amphetamine im Wert von Millionen beschlagnahmen ist für ein paar Schlagzeilen gut, aber den Nachschub stoppt es nicht. Die Preise bleiben ziemlich konstant und sind nie hoch genug, um den Markt zusammenbrechen zu lassen. Wenn einmal eine Lieferung ausfällt, wird die Lücke sofort aus anderen Quellen gefüllt. So beeindruckend der Verkaufswert der beschlagnahmten Drogen sein mag, es folgen stets unglaubliche Mengen nach. Selbst wenn Tonnen aus dem Verkehr gezogen werden, hat es keinen nennenswerten Einfluss auf das Konsumverhalten. Die ganze Verbotskampagne ist wie ein Kampf gegen die vielköpfige Hydra – für ein abgeschlagenes Haupt wachsen zwei neue
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