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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
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Erfindung der Psychoanalyse war, übersah Freud den einen wesentlichen Punkt, nämlich dass ihre Motivationen dieselben blieben, die sie bei Breuer gewesen waren: Anna O. legte größten Wert darauf, sich sein Interesse zu bewahren und die intensive Zusammenarbeit fortzusetzen. Ihre Symptome besserten sich nicht aufgrund der brillanten Einsichten, die sich Arzt und Patientin während der Sitzungen erarbeiteten, sondern sie schwankten je nach den Höhen und Tiefen ihrer Beziehung. Freud erkannte und überschätzte den innerpsychischen Konflikt; die Auswirkungen der zwischenmenschlichen Beziehung hingegen verkannte und unterschätzte er. 8
    Für Konversionsstörungen, die Übertragung von Affekten auf Organe, war die Psychoanalyse nicht die richtige Therapie; wie die Hypnose trug sie im Gegenteil zu ihrer Verbreitung bei. Ironischerweise wäre ein Schamane ein wirksamerer Therapeut für Anna O. gewesen als ein Psychoanalytiker. Er hätte ihre Symptome als Metapher begriffen und sich eine bessere Methode einfallen lassen, um sie mittels Suggestion zum Verschwinden zu bringen. Die Behandlung von Anna O. nahm kein gutes Ende, aber ein Happy End gab es dennoch: Im realen Leben war die Patientin Anna O. Bertha Pappenheim, die später Feministin wurde und mit ihrem Verein Weibliche Fürsorge Mitbegründerin der Sozialarbeit als Beruf war.
    Wie die Neurasthenie verschwand auch die Konversionsstörung bzw. Hysterie, als die Psychiater an die Stelle der Neurologen als wichtigste Helfer für diese Population Hilfesuchender traten. Suggestible Patienten, die sich selbstverständlich an den Neurologen wandten, präsentierten neurologische Symptome; begaben sich dieselben Patienten aber zum Psychoanalytiker, äußerten sie ihr Leiden in eher affektiven und kognitiven Beschwerden. Konversionssymptome erleben wir heute noch in den Teilen der Welt, in denen Psychotherapie und Psychiatrie nicht zum Alltag gehören und der Patient für Krankheiten der Seele eher Hilfe findet, wenn sie sich auf der somatischen Ebene äußern. 9
    Multiple Persönlichkeitsstörung
    Die dissoziative Identitäts- oder multiple Persönlichkeitsstörung begann sich in Europa um die Wende zum 20.   Jahrhundert auszubreiten. Auch hier war Charcot ein Vorreiter: Er war einer der Wegbereiter der Hypnose als beliebter ärztlicher Therapie (sofern sie nicht als ebenso beliebter Zaubertrick vor erlesener Gesellschaft diente). Die hypnotische Trance brachte inakzeptable Gefühle, Fantasien, Erinnerungen und Triebe ans Licht, die bis dahin nicht über die Schwelle des Bewusstseins gelangt waren. Aus der Zusammenarbeit von suggestiblen Patienten und suggestiblen Ärzten entwickelte sich die Vorstellung, das Individuum beherberge eine (oder zwei oder mehrere) geheime Persönlichkeiten, die sich vom dominanten Ich abgespalten (»dissoziiert«) hätten und nun eine unabhängige Existenz führten, ja manchmal für eine Weile die Kontrolle über das Verhalten übernähmen, teilweise ohne Wissen der betroffenen Person. Es war eine Methode, um eine Metapher für Not und Verzweiflung im eigenen Leben in eine scheinbar kohärente Krankheit umzumünzen, die darüber hinaus die persönliche Verantwortung für die verleugneten Gefühle herabsetzte.
    Paradoxerweise förderte die Behandlung der Abspaltung, der mutmaßlichen Ursache der Persönlichkeitsvervielfältigung, weitere Dissoziation durch Hypnose. Ziel war es, die »anderen« Persönlichkeiten ans Licht zu locken, um sie zu einem zusammenhängenden Ganzen zu verschmelzen. Dass die Hypnosebehandlung in allen ihren Auswirkungen die vermeintliche Krankheit eher verstärkte als heilte und die verdrängten Persönlichkeiten zu weiterer Teilung und Vervielfältigung verleitete, war nicht überraschend. Zum Glück begriffen Therapeuten und Patienten am Ende, dass die Hypnose mehr schadete als nützte, und sie verlor an Beliebtheit. Die multiple Persönlichkeitsstörung verschwand wieder, als die Hypnotiseure durch Psychoanalytiker ersetzt wurden, die das Augenmerk der Patienten auf zerstückelte und unterdrückte Impulse und Erinnerungen lenkten statt auf die Integration unterdrückter Persönlichkeiten.
    In den Fünfzigerjahren flammte die multiple Persönlichkeit durch das beliebte, bald auch verfilmte Buch Die drei Gesichter Evas 10 noch einmal kurz auf. Die Renaissance dauerte nicht lang, denn die meisten Therapeuten waren analytisch geschult und an der multiplen Persönlichkeitsstörung nicht interessiert: Es gab keinen

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