Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
stürzten sich wiederum mit Begeisterung auf die Echos ihrer Berichterstattung. Dass die Vorwürfe lächerlich, an den Haaren herbeigezogen, ja physisch unmöglich waren, zählte nicht. Aus dem Abstand betrachtet, kann man sich nicht vorstellen, wie ihnen auch nur ein einziger vernunftbegabter Mensch Glauben schenken konnte, aber die Vernunft hatte sich verabschiedet; sogar die absonderlichsten Beschuldigungen wurden ernst genommen, wenn sie nur oft genug, laut genug, anschaulich genug und in genügend Bundesstaaten und Ländern wiederholt wurden: Bei so viel Rauch muss ja irgendwo ein Feuer sein. Sogar das Justizsystem konnte sich zeitweilige Unzurechnungsfähigkeit vorwerfen.
Die Skandalfälle waren Variationen über zwei Themen: sexueller Missbrauch und Satanismus. Ersterer bestand aus jeder vorstellbaren (sowie mancher nicht vorstellbaren, ja nicht durchführbaren) sexuellen Handlung, aus Orgien, Pornografie, Prostitution und Folter. Zu Letzterem zählten Teufelsanbetung, Quälen oder Töten von Tieren, Trinken von Blut oder Urin, Kotessen, Dämonenbesessenheit. In manchen Geschichten tauchten eindeutige Fantasy-Elemente auf wie Kontakt mit Aliens, Missbrauch durch Roboter, Messerstiche, die keine Spuren hinterließen, und so weiter. Aber nicht einmal die eklatante Absurdität mancher Behauptungen vermochte den Fahndern den Keim eines Zweifels einzupflanzen.
Und alle diese haarsträubenden Vorgänge ereigneten sich angeblich in Kindertagesstätten, ohne dass irgendjemand etwas mitbekam, weder Eltern noch Nachbarn noch Lieferanten oder Briefträger – niemand. Unerklärt blieb, wie es die Kinder fertigbrachten, bis zur Aufdeckung der Untaten täglich normal und lächelnd die Kita zu verlassen und tags darauf ebenso munter wieder zu betreten. Als die Inquisition einen Gang zulegte, wurden die Resultate naturgemäß schlimmer: Argwohn und Vorwurf griffen rasch um sich – natürlich hätte der ursprüngliche Täter nicht tun können, was er tat, hätte ihm nicht das gesamte Personal als Mitwisser oder sogar Mittäter zur Seite gestanden. Der selbstgerechte Zorn und die brutalen Verhörmethoden naiver, aber häufig ehrgeiziger Staatsdiener, die nur an den Schutz unserer Kinder und die Bestrafung der Schuldigen dachten, trafen alle. Kollegen standen vor der schrecklichen Wahl aller zu Unrecht Beklagten: Bekenne ich mich zu dem falschen Vorwurf der Mitwisserschaft, verrate ich einen Kollegen und Freund, der dann aufgrund einer Falschaussage verurteilt wird, und verliere selbst die Ehre? Oder büße ich für das Verbrechen, unschuldig zur falschen Zeit am falschen Ort gewesen zu sein, meine Freiheit ein?
Aus dem panischen Wunsch heraus, sie vor dem vermeintlichen Verlust ihrer Unschuld zu retten, unterzogen die Eltern ihre Kinder schädlichen Befragungen, konfrontierten sie mit absurden Vorstellungen von Sex und Satan, verleiteten sie ungewollt zu Lügen und Falschaussagen, stellten sie öffentlich bloß und bürdeten ihnen langfristig Schuldgefühle dafür auf, dass sie Teil des ganzen Unheils gewesen waren: Dies alles war für die Kinder der eigentliche Verlust der Unschuld. Die involvierten »Therapeuten« hatten sich ein Instant-Expertentum in Sachen »Kita-Sex« erworben und gelangten wegen ihrer heldenmütigen Anstrengungen, die Untaten mit der Wurzel auszurotten, bald zu Berühmtheit. Die Befrager waren bemerkenswert blind für die Folgen ihrer Voreingenommenheit und ahnten nicht, inwieweit die Kinder durch Suggestion und positive Verstärkung dazu gebracht worden waren, dass sie die Vorurteile der Erwachsenen nachplapperten. Mit anatomisch korrekten Puppen, die wahrscheinlich dem Zweck dienten, das Vorgefallene zu veranschaulichen, trieben die Therapeuten den Prozess auf die Spitze, denn tatsächlich wurde daraus eine wechselseitige Spieltherapie, die aus den gemeinschaftlichen sexuellen Vorstellungen der Kinder und der Erwachsenen immer fantastischere Blüten trieb. 13
Warum brach die Kita-Hysterie ausgerechnet zu dieser Zeit, an diesem Ort aus? Warum 1982? Warum in den USA ? Was tatsächlich die Ursachen eines Ereignisses sind, bei dem so viele verschiedene, aufeinander wirkende Einflüsse zusammenkommen, lässt sich nie genau sagen. Aber manches hat doch entscheidend dazu beigetragen. Man kann keine Kita-Panik entwickeln, wenn es keine Kitas gibt. Seitdem mehr Mütter berufstätig waren, Familien wegen einer Arbeitsstelle weit wegzogen und weniger Großeltern als Babysitter zur Verfügung standen, war
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