Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)
Grundstock an Therapeuten, die gewillt, bereit und fähig gewesen waren, einen Grundstock an neuen Patienten mit multiplen Persönlichkeiten zu schaffen. Eine weitere Welle, die sich diesmal länger hielt, folgte auf die Veröffentlichung von Sybil 11 in den Siebzigerjahren. Die Zahl der Fälle schnellte in die Höhe, die MPS schwoll abermals zur Modekrankheit an, die sich aus sich selbst speiste, erreichte ihren Höhepunkt in den frühen Neunzigerjahren und verschwand so rasch, wie sie ausgebrochen war. Grund für ihre Rückkehr war ein wiedererwachtes therapeutisches Interesse an der Hypnose und anderen regressiven und suggestiven Methoden, die zur Aufdeckung alternativer Identitäten eingesetzt wurden. Es entstand eine Therapeutenindustrie mit Wochenendseminaren, bei denen sie lernten, neue Persönlichkeiten hervorzulocken. Diese schlecht ausgebildete Armee frischgebackener, enthusiastischer MPS -»Experten« schuf in erschreckendem Tempo neue Persönlichkeiten, und MPS wurde zur Standarddiagnose für jeden, der zu ihnen in die Praxen kam.
MPS ist wahrscheinlich nicht mehr als eine Metapher, die sich verselbstständigte. Die meisten, wenn nicht alle MPS -Fälle wurden durch diese wohlmeinenden, aber fehlgeleiteten Therapeuten herbeigeführt, die keine Ahnung hatten, was in ihren Klienten vor sich ging, so wenig wie die Betroffenen selbst. Einem suggestiblen Therapeuten, der einen suggestiblen Patienten behandelt, fällt es nicht schwer, aus jedem beliebigen psychiatrischen Problem eine multiple Persönlichkeitsstörung zu konstruieren. Der oder die Betroffene und der Therapeut beschwören den/die »Andere/n« herauf und vergeben Namen, um Impulse und Verhaltensweisen, die als unannehmbar empfunden werden, weil sie den eigenen Erwartungen und Ansprüchen widersprechen, zu einem Ganzen zusammenzufügen. Da ist es dann kein großer Schritt bis zu der Annahme, diese Teile der Persönlichkeit führten ein Eigenleben. 12
Eine Zeit lang konnte man den Eindruck haben, jeder dritte bis vierte Patient fühle sich in mehrere Personen verzweigt. Genährt wurde die Krankheit auch durch das damals aufkommende Internet mit seinem unmittelbaren Zugang zu Information und Leidensgenossen. Mit wachsender Anzahl von MPS -Patienten nahm auch die Zahl der Persönlichkeiten pro Kopf zu, und es entstand ein regelrechter Wettbewerb, wer die meisten »Anderen« zustande brächte. Mein persönlicher Rekord ist eine Patientin, die 162 getrennte Persönlichkeiten zum Vorschein gebracht zu haben behauptete: die meisten weiblich, aber auch ein paar Dutzend Männer darunter, sehr unterschiedlichen Alters und Charakters und alle mit eigenem Namen. Noch absurder wurde es, als die ersten PatientInnen (und, ob Sie’s glauben oder nicht, auch einige TherapeutInnen) behaupteten, manche ihrer Persönlichkeiten stünden in Beziehung zu Dämonen und satanistischen Ritualen.
In den USA nahm die Nachfrage nach MPS -Therapien drastisch ab, als die Krankenkassen nicht mehr dafür bezahlten und die Therapeuten aus Erschöpfung und Enttäuschung die Lust daran verloren. Einstige MPS -Enthusiasten mussten erkennen, dass sie, wenn sie immer mehr Persönlichkeiten zuließen, eine Büchse der Pandora öffneten. Den meisten Patienten bekam die Behandlung zunehmend schlecht, in manchen Fällen sogar sehr schlecht, und sie kamen weder in der Therapie noch im Leben mehr zurecht. Ich habe mindestens hundert Personen kennengelernt, die sich als Wirte multipler Persönlichkeiten sahen. Nahezu alle kamen während der Blütezeit der Epidemie, Ende der Achtziger-, Anfang der Neunzigerjahre. In jedem einzelnen Fall konnte ich feststellen, dass die in Erscheinung tretenden Persönlichkeiten erst mit einem Eigenleben begonnen hatten, nachdem die betreffende Person sich entweder bei einem einschlägig interessierten Psychotherapeuten in Behandlung begeben oder sich im Internet einer Chatgroup angeschlossen oder Gleichgesinnte kennengelernt oder im Kino einen Film zum Thema gesehen hatte, und ich frage mich, ob MPS überhaupt jemals als spontanes klinisches Bild vorkommt – wenn ja, dann jedenfalls selten.
Als Leiter der Arbeitsgruppe für die Redaktion des DSM-IV stand ich bei der multiplen Persönlichkeitsstörung vor einem Dilemma. Sie kam mir vor wie ein Schwindel – oder, freundlicher formuliert, wie eine kollektive, vorübergehende Infektion des Therapeuten wie des Patienten – und gewiss nicht wie eine legitime psychische Störung, aber schließlich hatten wir uns
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