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Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition)

Titel: Normal: Gegen die Inflation psychiatrischer Diagnosen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Allen Frances
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statt. Auch die psychiatrische Nomenklatur erfuhr eine Erweiterung und wurde bald spezifischer in der Beschreibung einer Vielfalt unterschiedlicher Symptome bei ambulanten Patienten, die zuvor unter dem bedeutungslosen gemeinsamen Nenner Neurasthenie zusammengefasst worden waren. Die Modekrankheit hatte sich überlebt. 7
    Hysterie/Konversionsstörung
 (Zeit: Ende des 19./Anfang des 20.   Jahrhunderts) 
    Unter allen Epidemien erfreute sich diese des größten Ansehens, denn die vier berühmtesten Neurologen ihrer Zeit zählten zu ihren Anhängern und setzten sich für ihre Verbreitung ein: Jean-Martin Charcot, Pierre Janet, Josef Breuer und Sigmund Freud. Die Diagnose Hysterie beschrieb Patienten (ursprünglich nur Patientinnen: daher der Name, der sich von hystera , »Gebärmutter«, herleitet) mit rätselhaften neurologischen Symptomen, die weder der Verzweigung des Nervensystems noch den bekannten neurologischen Krankheiten zugeordnet werden konnten. Die häufigsten waren Lähmungen aller Art, Ausfall der Sinnesorgane wie Taubheit und Blindheit, Sprachverlust oder -veränderung, sogenannte histrionische Reaktionen, Bewegungsstörungen, Gefühlsstörungen, Krampfanfälle, Schwindel, Ohnmachten.
    Charcot war ein großer Darsteller, der sich der Hysterie mit einer Begeisterung und einem Spürsinn widmete, die argwöhnisch hätten stimmen müssen. Er versammelte eine Schar besonders suggestibler Patientinnen und eine Armee von Schülern (darunter auch Freud) um sich, die aus ganz Europa nach Paris strömten, um den Vorführungen des Meisters beizuwohnen, die sehr gut besucht, bühnenwirksam und hochdramatisch waren. Genussvoll demonstrierte Charcot, dass er durch Hypnose in der Lage war, Symptome sowohl zu heilen als auch zu erzeugen – unter Hypnose ließ er die Siechen und Lahmen gesunden; unter Hypnose machte er die Gesunden siech und lahm. Seine Patienten, von denen viele gemeinsam untergebracht waren, wurden mit der Zeit grandiose Schauspieler, die Symptome auch dann darzustellen wussten, wenn der große Mann sie nicht unter seinen Fittichen hatte. Leider entging Charcot die zentrale Erkenntnis der ganzen Veranstaltung: Seine Suggestionskraft und der Wunsch, ihm zu gefallen, hatten aus seinen Patienten Bühnenkünstler gemacht, wie er selber einer geworden war. Blind für die eigene Rolle als Verursacher, entwickelte Charcot unbestimmte Theorien über Gehirnkrankheiten, die die von ihnen Befallenen sowohl für Hypnose als auch für Hysterie empfänglich machten.
    Unterdessen hatte Josef Breuer (Freuds zweiter Lehrer) in Wien Schwierigkeiten mit der Hypnosetherapie bei Anna O. Diese war eine kreative, hochintelligente, suggestible und einsame Frau, die unter der üblichen Palette unspezifischer, vorwiegend neurologischer Symptome litt. Unter ihrer Anleitung wurde die »talking cure« (»Redekur«: der Beginn der Psychoanalyse) als Alternative zur Hypnose erfunden. Statt in hypnotische Trance zu verfallen, reihte Anna O. scheinbar aufs Geratewohl assoziative Gedanken aneinander, woraufhin Patientin und Arzt psychologische Verbindungen herstellten, die ihre Fantasien und unbewussten Impulse mit ihrer Vergangenheit in Zusammenhang setzten. Es klappte! Die Symptome wurden prompt besser. Aber wann immer die Genesung ihre Beziehung zu ihrem hochgeschätzten Arzt zu beenden drohte, erkrankte sie erneut. Die Erklärung lag auf der Hand: Anna gesundete, um Breuer eine Freude zu machen, und entwickelte neue Symptome, um ihn nicht zu verlieren. Mit der Zeit wurde Breuer nervös (ganz zu schweigen von seiner eifersüchtigen Gattin, die Annas Beweggründe vermutlich viel besser verstand als er oder Freud) und brach die Behandlung seiner empfänglichen Patientin ab, indem er sie kurzerhand für gesund erklärte.
    Klar war, wie bei Charcots Hypnose, dass Symptome aufgrund der Suggestibilität der Patientin abwechselnd zum Verschwinden oder Erscheinen gebracht werden konnten und dass die Suggestion ein wichtiger Faktor in jeder tiefer gehenden Arzt-Patienten-Beziehung spielte. Freud prägte den Begriff der »Übertragung« für die Projektion von Gefühlen aus der Kindheit der Patienten auf neue Beziehungen, im vorliegenden Fall auf den Arzt, für dessen Einfluss sie dann so empfänglich werden. Aber selbst Freud war nicht klar, welche große Rolle die Suggestion auch in der Psychoanalyse spielt. Er missverstand Anna O. in einer Weise, die uns äußerst lehrreich ist. So beschäftigt er mit ihrer Analyse und der gemeinsamen

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