Nosferas
haben sie nicht«, antwortete Alisa mit einem nur mühsam unterdrückten Kichern. »Ich war so gründlich eingesperrt wie du auch.«
»Und wie hast du sie dann aufbekommen?«
»Das verrate ich dir nicht. Aber ich gebe dir einen Hinweis. Es hat etwas mit dem Menschenzeug zu tun, das du so gering schätzt.«
»Was hast du vor?«
»Ich werde mal nachsehen, wo wir sind. Und nun sei still! Die anderen könnten dich hören.«
»Ich bin nur still, wenn du mich rauslässt«, quengelte Tammo.
»Vergiss es! Du bleibst in deiner Kiste. Das ist viel zu gefährlich. Was denkst du? Ich kann es nicht verantworten, dass du dich hier irgendwo im Zug zwischen den Passagieren herumtreibst oder gar auf das Dach hinaufkletterst. Ich könnte es mir nicht verzeihen, wenn dir bei diesem Versuch etwas zustieße. Wobei ich für meinen Teil jetzt genau das tun werde. Den Nachtwind im Gesicht. Das klingt verlockend!«
»Sei verflucht!«, schimpfte Tammo und klopfte noch einmal gegen das Holz.
»Schlaf schön, kleiner Bruder, und ruh dich aus. Du wirst deine Kräfte brauchen, wenn wir unser Ziel erreicht haben.«
Alisa biss sich auf die Lippen, um nicht zu lachen. Sie eilte zu der schmalen Tür. Sie brauchte nicht mehr als ein paar Augenblicke, um das Schloss zu öffnen. Der Fahrtwind fuhr in ihr Haar, das sich aus den Nadeln gelöst hatte, und zerrte an den Flechten. Alisa trat auf die Plattform hinaus und sah zum Dach hoch. Ein Tritt auf das Geländer und sie würde die Kante greifen können. Ein kräftiger Zug. Das war kein Problem - oder wäre kein Problem gewesen, wenn sie ihre Hosen und den Kittel getragen hätte. Alisa sah an ihrem etwas zerknautschten Kleid hinunter und fluchte. Sie bekam nicht einmal den Fuß so hoch, um ihn auf das Geländer stellen zu können, ohne den Rock zu zerreißen.
Kurz entschlossen trat sie in den Wagen zurück, öffnete die unzähligen Knöpfe an ihrem Oberteil, löste Bänder und Haken und streifte das Kleid samt seinen beiden langen Röcken ab. Achtlos warf sie es über die Kiste. Die Schuhe flogen hinterher. Barfuß und in ihrem wadenlangen, weiten Unterkleid erklomm sie das Geländer und zog sich mühelos auf das Zugdach hinauf.
War es schon zwischen den Wagen windig gewesen, so blies ihr hier oben ein handfester Sturm ins Gesicht. Wie war das herrlich! Sie drehte sich im Kreis und blickte sich um. Zuerst sah sie nur Tannen dicht an dicht um sich her aufragen. Die Lokomotive quälte sich einen Berghang hinauf, doch dann blieben die Stämme zurück. Alisa ließ sich in den Schneidersitz sinken und sah sich voll Staunen um. Die Geleise führten ganz nah an eine steile Felswand heran, die über ihnen bis in den Himmel zu ragen schien. Irgendwo in einer Schlucht verborgen, rauschte ein Wasserfall. Auf der anderen Seite verlor sich der Blick über Almen mit saftigem Gras, auf dem verstreut ein paar Kühe standen. Der Mond trat hinter den Wolken hervor. Berggipfel ragten in den nächtlichen Himmel. Schneefelder wechselten mit schroffen Felsen. Im Mondlicht glitzerte der Schnee, als wäre er mit Diamanten besetzt. Alisa stieß einen Ruf des Entzückens aus. Nie hätte sie sich vorgestellt, dass die Gipfel der Alpen so hoch und so wundervoll sein würden! Die Luft roch ganz anders als die Seeluft, die der Wind zu Hause vor sich hertrieb. Der Geruch Hamburgs wechselte mit den Gezeiten, mal modrig und schwer von altem Fisch, dann wieder salzig und frisch. Wenn der Wind nachließ, dann roch es nach dem Rauch der Schornsteine, nach Tran und Teer oder nach den Gaslampen in den Gassen - und natürlich nach den vielen Menschen, die sich in der Stadt zusammendrängten.
Hier in den Bergen war die Luft kalt und klar. Alisa roch die nassen Felsen, das Moos und die Flechten. Eine Almwiese hüllte sie in würzigen Kräuterduft. Die einzigen Warmblüter, die sie spürte, waren die Kühe und ein paar Ziegen.
Ein schrilles Pfeifen durchschnitt die Nacht. Alisa fuhr herum. Eine kleine Dampfwolke entwich der Lokomotive. Als sie sich aufgelöst hatte und Alisas Sicht nach vorn nicht mehr trübte, stieß sie einen Schrei des Entsetzens aus. Eine Wand aus Fels raste direkt auf sie zu. Sie würden zerschellen! Dann erblickte sie das schwarze Portal, unter dem die Lokomotive nun verschwand. Ohne weiter nachzudenken, ließ sich Alisa flach auf den Bauch fallen. Und schon hatte der Berg sie verschluckt. Sie fühlte den heißen Rauch im Gesicht, und wieder einmal kam es ihr vor, als könnte sie ersticken. Erneut ließ der
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