Nosferatu 2055
Wintertag mit zwanzig Grad Celsius ungewöhnlich mild war. Sie kannte nicht mehr als eine Handvoll Elfen, Leuten, denen sie wegen ihrer Verachtung für ihre gemischtrassische Abstammung im allgemeinen aus dem Weg ging. Sie hatte in ihrem ganzen Leben noch nie jemanden wie diesen Elf gesehen, dessen war sie sich sicher. Doch das Bild hatte sie gepackt und wollte sie nicht loslassen. Sie blätterte die Seiten der Illustrierten um, sah ihn lächelnd in der Sonne sitzen, dann drehte sie das Blatt, um ihn aus einem anderen Blickwinkel zu betrachten. Sie wußte, daß sie den Burschen noch nie zuvor gesehen hatte. Und doch war sie ganz sicher, daß sie ihn schon ihr Leben lang kannte.
Vielleicht hatte sie ihn schon einmal auf einem Filmplakat oder einer Ankündigung für ein Rockkonzert gesehen, vielleicht auch auf einem polizeilichen Steckbrief oder sonstwo... Drek, dachte sie, ich wünschte, ich könnte lesen. Wer ist der Bursche?
Wie auf ein geheimes Stichwort bog ein javanischer Mann um die Straßenecke, dessen weiße, fließende Kleidung in der leichten Brise flatterte wie Wolken, die auf den Tafelberg zutrieben, und winkte ihr fröhlich zu.
Sie winkte ihn zu sich, indem sie auf ziemlich alberne Art mit der Illustrierten herumwedelte.
»Nasrah, willst du dir ein paar Kröten verdienen?« fragte sie gutgelaunt. Er hob die Augenbrauen und lächelte.
»Willst du mir wieder irgendwas verkaufen, Kristen?«
»Nein, ich will nur, daß du mir was vorliest.«
Er sah sie einen Moment lang verwundert an, zog dann eine ziemlich ramponierte Brille aus der Tasche und hatte sie kaum aufgesetzt, als sie ihm auch schon die Illustrierte in die Hand drückte.
»Hier. Fang da an der Stelle an. Erzähl mir alles über ihn.«
Die Weinhandlung hatte auch noch spät am Abend geöffnet.
Serrin erinnerte sich, daß sein Freund, der walisische Adelige Geraint, ihm einmal erzählt hatte, wenn er je nach Deutschland käme, sollte er versuchen, Eiswein zu bekommen, den außergewöhnlichen gelben Wein, der aus Trauben gekeltert wurde, die an der Rebe verfault waren, nachdem der erste Frost den Saft kristallisiert und einen außergewöhnlich konzentrierten Gärungsprozeß eingeleitet hatte. Er nahm die Flasche mit in sein Hotelzimmer, das in dem Augenblick, als er sie entkorkte, plötzlich von einem Duft nach Früchten und Blumen erfüllt war. Serrin goß sich ein Glas ein, dann hob er es an die Lippen und kostete die aromatische Süße, während der Wein seine Kehle herunterrann, wie Wasser von einem tauenden Eiszapfen tropft. Er war verblüfft. Der Wein schmeckte unvergleichlich. Ein Glas würde nicht reichen.
Kurz nach Mitternacht erwachte er abrupt und stieß die leere Flasche weg, als er die Arme reckte und ausgiebig genug gähnte, um sich den Kiefer auszurenken. Er war hungrig und sicher, daß er ein wenig Bewegung brauchen würde, bevor er wieder einschlafen konnte, also benutzte er seinen Nachtschlüssel, um das Hotel zu verlassen und noch ein wenig spazierenzugehen. Auf seinem Weg zu den Bars, wo er auch um diese Uhrzeit noch etwas zu essen bekommen würde, kam er an der Kirche und an den verstreut liegenden Universitätsgebäuden vorbei.
Die winzigen Gassen in der Umgebung der Universität waren verlassen und kaum beleuchtet. Plötzlich überfiel ihn Panik, als seine Schutzvorrichtung ansprach und aktiv wurde. Sich hektisch umsehend, war der Elf sicher, daß nur eine direkte Bedrohung seines Lebens solch eine Reaktion auslösen konnte. Er wirkte einen Barrierenzauber und hatte ihn kaum beendet, als ein massiver Pfeil die Mauer hinter ihm mit einem brutalen, knirschenden Laut traf.
Auf seiner Brust war ein roter Punkt aufgetaucht, ein Laserzielpunkt, und Serrin riskierte einen kurzen astralen Blick, um seinen Ausgangspunkt zu finden. Hoch oben auf den Dächern erblickte er eine zweite Gestalt, schattenhaft und lautlos, die sich zu seiner Linken aus dem Schatten schob. In aller Eile wechselte er wieder auf normale Wahrnehmung und beschloß, zumindest einen dieser Kerle mit einem massiven Zauber auszuschalten. Es hatte keinen Sinn, Dinge nur halb zu erledigen.
Als er den Zauber wirkte, erhellte das Höllenfeuer die Dächer über ihm, und ein Flammenvorhang erfaßte den Schützen und störte ihn bei seinem zweiten Schuß. Der Mann schrie auf, taumelte, und sein brennender Leib schlug mit einem gräßlichen Klatschen auf das Kopfsteinpflaster der Gasse. Das Gewehr, das ihm aus den Händen fiel, klapperte über die
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