Nosferatu 2055
Straße, und zugleich ergoß sich ein Wasserfall von Munition von dem Hausdach nach unten. Serrin hörte Stimmen in der Ferne und dann jemanden rufen: »Polizei! Hilfe, Poli-
zei!« Der zweite Mann war noch einen Meter von ihm entfernt. Serrin konnte blanke Schnappklingen an seinen Fingern erkennen, die im schwachen Licht der Umgebung glitzerten. Als Serrin daraufhin einen Schritt zurückwich, stieß er gegen eine Hausmauer.
Der Mann grinste. In seinem langen, formlosen Mantel war er fast anonym, und Serrin ging davon aus, daß sich Cyberaugen unter seiner Sonnenbrille verbargen. Seiner Jagdmütze haftete eine grimmige Angemessenheit an, doch ein anderes Merkmal schlug eine Saite in Serrins Gedächtnis an: eine dreieckige Narbe auf seinem Kinn. Er wußte, daß er diese Narbe schon einmal gesehen hatte, aber ihm blieb keine Zeit, sich zu fragen, wo.
Die Schnappklingen erwischten ihn in dem Augenblick am Arm, als Serrin den Angreifer mit einem Manablitz traf, der Psyche und Wesen des Mannes schwer zusetzte. Sein Angreifer grunzte und klappte zusammen, als habe er einen Tritt in den Unterleib erhalten, aber Serrin wußte, daß die Wucht, die er in den Zauber gelegt hatte, mehr als das hätte bewirken müssen. Er stürzte an dem Mann vorbei und rannte zur Hauptstraße. Gerade als er um die Ecke biegen wollte, ließ ihn das Geräusch hastiger Schritte vor ihm innehalten und in einen im Schatten liegenden Hauseingang zurückweichen, um einen Unsichtbarkeitszauber zu wirken. Trotz der Gefahr und des Adrenalins, das in seinen Adern kreiste, fühlte sich Serrin schwach und benebelt, ein Zeichen dafür, daß er viel zu rasch viel zuviel magische Energie verbrauchte. Ein halbes Dutzend betrunkener Studenten schwärmte an ihm vorbei und zu der Stelle, wo Serrin seinen Angreifer zurückgelassen hatte.
Während er voller Ungeduld darauf wartete, daß sie vorbeigingen, bemerkte er etwas Kleines und metallisch Glänzendes auf dem Boden. Er hob es auf, da er glaubte, es verloren zu haben. Dann hörte er Sirengeheul, das sich von Westen her näherte, und Serrin mußte warten, bis die Polizeiwagen vorbei waren, bevor er schließlich mit unsicheren Schritten zu seinem Hotel zurückging. Sein Arm brannte wie Feuer, obwohl kaum Blut an seiner Jacke zu sehen war. Die Wunde war kaum mehr als ein Kratzer. Ihr Geister, dachte er, der Dreksack hat mich vergiftet!
Er schaffte es gerade noch auf sein Zimmer, aber er konnte sich nicht an den BuMoNa wenden, weil er es unterlassen hatte, bei seiner Ankunft eine entsprechende Versicherung abzuschließen. Und er wollte auch nicht die deutsche Polizei verständigen, die sich mit Sicherheit über vergiftete Wunden und verbrannte Leichen auf den Straßen des friedlichen Heidelberg wundern würde. Der Elf riß ein Stück Stoff von einem Hemd aus seinem Koffer ab und band sich den linken Arm ab, und zwar so straff, daß er in Sekundenschnelle weiß wurde. Dann stopfte er seine Sachen in den Koffer und rief ein Taxi. Er wußte, daß das verrückt war, daß er sein Leben aufs Spiel setzte, doch das Gift ließ ihn nicht mehr klar denken, und seine Handlungen wurden von einer schrecklichen, tiefsitzenden Furcht gesteuert.
»Zum Hauptbahnhof«, sagte Serrin mühsam zu dem Taxifahrer, während er ihm mit genügend Nuyen vor dem Gesicht herum wedelte, um sich die Flucht vor den Sirenen zu erkaufen, oder jedenfalls hoffte er das. Er hatte Glück. Der Ork grunzte nur, und der Wagen glitt leise am Flußufer entlang, dann nach links über den Bismarckplatz und nach Westen in die Bergheimerstraße, bis die blinkenden Blaulichter nicht mehr zu sehen waren.
Am Bahnhof angekommen, stolperte Serrin in der Hoffnung aus dem Taxi, der Fahrer würde ihn für einen von vielen betrunkenen Touristen halten. Einen Fuß vor den anderen setzend, näherte er sich der großen Tafel mit den Fahrplänen und studierte sie kurz, bevor er seinen Kredstab in den Fahrkartenautomaten steckte. Seine Gedanken überschlugen sich förmlich: Nimm den Zug nach Essen und steige in Mainz in den Zug nach Frankfurt um oder fahre bis Bonn durch. Kauf eine Fahrkarte nach Essen für den Fall, daß dich die Polizei verfolgt. Steig unterwegs irgendwo aus. Der Menschenhaß des Automaten mußte für heute erschöpft sein, da er gleich darauf seine Fahrkarte ohne die üblichen Verzögerungen ausspuckte.
Serrin schaffte es gerade noch ins Erster-Klasse-Abteil, bevor er schließlich zusammenbrach. Die Wunde brannte wie Feuer, und seine Kehle war
Weitere Kostenlose Bücher