Nosferatu 2055
und jetzt war sie jedoch froh, es dabeizuhaben. Auf dem Weg zur Villa, die etwas zurückversetzt an der Main Street lag und mit Sicherheitszäunen und blühenden Hecken umgeben war, wurde sie immer paranoider. Als sie schließlich vor dem schlichten grauen Tor stand und auf die Klingel drückte, wollte sie nur noch von der Straße herunter. Das Tor öffnete sich langsam und kaum lange genug, um ihr Zutritt zu gewähren, dann schnappte es sofort wieder hinter ihr zu.
Sie ging zur Haustür, die von einem hochgewachsenen, hagergesichtigen Weißen geöffnet wurde, der eine großkalibrige Pistole auf ihre Brust richtete.
»Laß die Tasche fallen und leg die Hände auf den Kopf«, befahl er. Sie gehorchte augenblicklich. Während er Pistole und Augen auf sie gerichtet hielt, ging er langsam in die Knie und öffnete die Tasche. Er zog ihr Messer heraus, fauchte sie an, behielt es in der Hand und befahl ihr, die Tasche wieder an sich zu nehmen. Sie tat es sehr langsam.
»Du dachtest wohl, du könntest mich abmurksen und dir dann die Sachen unter den Nagel reißen, was?« knurrte er.
»Hör mal, Chummer, ich bin nur das Botenmädchen«, sagte sie müde. »Ich bin die Main Street entlanggegangen, um hierherzukommen. Welcher Idiot würde das ohne Waffe tun?«
Er nickte widerwillig und ging in den Hausflur. »Du kommst besser mit rein. Ich wickle meine Geschäfte nicht hier draußen ab, wo jeder, der die Augen offenhält, zusehen kann«, sagte er. Seufzend folgte sie ihm hinein, wobei sie sorgfältig darauf achtete, sich langsam und gemessenen Schrittes zu bewegen.
Der Mann legte das Messer auf den Tisch, ging zu einer Kommode - wobei er sie nicht aus den Augen ließ - und nahm ein altes, ziemlich billig zusammengesetztes Radio herunter. Er brachte es zu ihr und stopfte es in ihre Tasche.
»Es ist da drin«, sagte er. »Sag Manoj, er kann das Radio behalten. Es funktioniert noch.« Fast hätte er sich ein Lächeln gestattet, doch dann nahm er davon Abstand. »Sag ihm, wenn die andere Hälfte des Geldes nicht bis morgen früh hier ist, bekommt er Besuch von ein paar Männern. Und jetzt schwirr ab.«
Kristen war noch nicht bereit, die Aussicht aufzugeben, etwas Geld nebenbei zu verdienen. »Ich habe etwas, von dem Manoj sagte, du würdest es vielleicht kaufen.« Der Mann lachte verächtlich, aber das brachte sie nicht aus der Fassung. »In der Tasche. Ein Computer.«
Er holte das Radio wieder heraus und stellte es beiseite, dann zog er das kleine Kästchen hervor. Die Tatsache, daß er es nicht anstarrte wie etwas, das gerade in ein Loch gekrochen und dort gestorben war, ließ sie hoffen.
»Ich sehe es mir mal an«, sagte er. »Aber du kommst besser mit. Ich traue dir nicht so sehr, daß ich dich hier alleine lassen würde.«
Sie immer noch wie ein Luchs beobachtend, führte er sie in ein Hinterzimmer, wo er ihr einen Platz ihm gegenüber an einem Arbeitstisch zuwies. Er ließ die Pistole in Reichweite liegen und drückte auf den winzigen Einschaltknopf des Computers.
»Manoj hat ihn nicht zum laufen gebracht. Er sagte, vielleicht könntest du die Einzelteile brauchen«, sagte Kristen zu ihm. Er schraubte das Gehäuse auf und warf einen Blick auf das Innere.
»Das Ding ist noch einigermaßen in Ordnung. Vielleicht könnte ich wirklich einiges davon gebrauchen«, sagte er kühl. »Ich gebe dir hundert Rand dafür.«
Das war Hühnerfutter, echt. Aber erstens wußte Kristen nicht, was das kleine Gerät wirklich wert war, und zweitens war sie in keiner guten Verhandlungsposition. Sie hatte gelernt, daß ein kleiner Gewinn sofort besser war als die Aussicht auf einen großen später, also beschloß sie, das Geld anzunehmen.
»Klar. Wenn du mir bei einer Sache hilfst.«
»Und die wäre?« knurrte er. Sie schob ihm den geglätteten Ausdruck herüber. »Einer der Namen auf der Liste. Serrin Shamandar. Gibt es eine Möglichkeit, mehr über ihn zu erfahren?«
Er betrachtete die Zahlen auf dem Papier. »Da steht eine Telekomnummer«, sagte er. »Warum hast du es damit nicht versucht, Dämel?«
»Ich kann nicht lesen, Dämel«, schnauzte sie pikiert.
»Hör mal, ich rufe niemanden an, von dem ich nie auch nur gehört habe«, sagte er. »Manche Leute haben Schaltungen installiert, die automatisch jeden Anruf zurückverfolgen. Wenn du mit diesem Kerl reden willst, laß jemanden für dich anrufen, wenn du wieder zu Hause bist. Es gibt genug öffentliche Apparate.«
Wenn ich einen finde, der nicht im Eimer ist, dachte sie.
Weitere Kostenlose Bücher