Notaufnahme
an.
»Was kann denn schon am frühen Morgen so Schreckliches passiert sein?« Mein Bedarf an Hiobsbotschaften war bereits gedeckt, doch ich fürchtete, dass Stan eine weitere schlechte Nachricht zu verkünden hatte.
»Meine Zeugin ist abgehauen, Alex. Du weißt schon, es geht um den Prozess vor Richter Sudolsky. Also, gestern wurde die Beweisaufnahme abgeschlossen, aber meine Zeugin ist noch nicht verhört worden. Du erinnerst dich – die Frau, die ich eigens aus Pittsburgh geholt habe, damit sie hier aussagt und …«
» Wo war sie untergebracht?«
»Nun, das ist der Punkt. Du warst so beschäftigt mit deinem Fall, und ich wollte dich nicht damit belästigen. Also bin ich zu Pat McKinney gegangen und hab’ mir von ihm die Erlaubnis geholt, sie in einem Hotel unterzubringen. In einem ganz billigen natürlich. Im Big Apple, drüben in der Vierundsechzigsten.«
»Na toll. Du quartierst ‘ne Nutte mitten im Rotlichtviertel ein. Hoffentlich mit ‘nem Bodyguard vor der Tür?«
»Alex, sie hat mir hoch und heilig versprochen, dass sie nicht mehr auf den Strich geht. Ich hab’ ihr wirklich geglaubt.«
Ich verdrehte die Augen. Stan war wirklich zu dämlich – eher würde ihn der Blitz treffen, als dass er jemals das Vergnügen hätte, eine Ex-Nutte kennenzulernen.
»Also, was ist passiert? Sie ist rausgeschmissen worden, weil sie’s mit Freiern in einem Hotelzimmer getrieben hat, für das die Steuerzahler aufkommen?«
»So ähnlich. Der Hotelmanager hat sie erwischt, als sie sich um zwei Uhr morgens mit ‘nem Typen im Schlepptau aufs Zimmer schleichen wollte. Der Manager wusste, dass sie von uns kommt, hat den Jungen vor die Tür gesetzt, sie aber aufs Zimmer gehen lassen. Na ja, und nachdem auch sie weg war, hat mich der Manager angerufen.«
»Nur keine Panik. Wahrscheinlich macht sie draußen noch ‘ne schnelle Mark, bevor wir sie wieder nach Hause schicken.«
»Der Manager ist da anderer Meinung. Sie ist weg, abgehauen, und hat alles, was in dem Zimmer nicht niet- und nagelfest war, mitgehen lassen: das gesamte Bettzeug und die Handtücher. Sogar die Bibel hat sie mitgenommen«, stöhnte er verzweifelt.
Bei der Vorstellung, wie McKinney angesichts dieser Neuigkeit fluchen würde, musste ich lachen. Das war mit Sicherheit der letzte Zeuge gewesen, den wir im Big Apple einquartiert hatten – in einem der wenigen Manhattaner Hotels, die sich die Staatsanwaltschaft leisten konnte.
»Ich weiß nicht, ob es Sinn hat, sie von der Polizei suchen zu lassen; bei den Geschworenen ist sie jedenfalls unten durch, wenn die davon erfahren.«
»Du darfst sie ihnen eben als nichts anderes als das, was sie ist, verkaufen, auch wenn sie nur ‘ne Nutte statt ‘ner Ex-Nutte ist. Wenn ich mich recht erinnere, hattest du doch haufenweise medizinisches Beweismaterial, auf dem in diesem Fall die Hauptbeweislast liegt. Spiel ihre Verletzlichkeit aus und mach ihnen klar, was für ein Dreckskerl der Angeklagte ist.«
»Und wie soll ich sie so schnell wiederfinden? Vor halb zehn steht mir kein Polizist zur Verfügung.«
»Ruf auf dem Revier Midtown South an und versuch, vor Schichtende noch ein paar Cops von dort an die Strippe zu bekommen. Gib ihnen eine Beschreibung von der Frau und frag sie, ob sie sie zufällig auf ihrer Tour gesehen haben.« Die Polizisten, die den Strich kontrollierten, machten selten vor acht Uhr morgens Schluss. »Und am wichtigsten ist, dass du jetzt nicht ausrastest. Bitte den Richter, den Prozess um einige Stunden zu verschieben, falls sie nicht gleich wieder auftaucht. Auch das ist kein Weltuntergang.«
»Danke, Alex, ich melde mich später wieder.«
Bis Laura erschien, erledigte ich meine Korrespondenz, dann diktierte ich ihr einige Briefe, die noch vor meiner Rückkehr rausmussten. Um halb zehn erinnerte sie mich daran, dass ich rüber zur Urteilsverkündung des Richters Torre im Prozess gegen den Serienvergewaltiger musste, den Gayle Marino drei Wochen zuvor überführt hatte.
Ich schlüpfte in eine halbvolle Zuhörerbank, als Gayle gerade das Wort ergriff. Obgleich der Richter Johnny Rovaros kriminelle Vorgeschichte kannte, zählte Marino gewissenhaft die Vorstrafen des Angeklagten auf, um vor diesem Hintergrund eine besonders harte Bestrafung zu fordern. Sie erinnerte den Richter Torre daran, dass Rovaro acht Jahre zuvor für ein ähnliches Verbrechen verurteilt worden war und im Gefängnis sogar an einem Therapieprogramm für Sexualstraftäter teilgenommen hatte. Nach seiner Entlassung
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