Notaufnahme
in weißen Kitteln steht.«
»Jetzt red endlich Klartext.«
»Der Lieutenant hat gerade angerufen; er hat’s von den Kollegen der Nachtschicht erfahren. Es geschah zwischen drei und vier Uhr morgens, wieder in einem Krankenhaus, in dessen unmittelbarer Umgebung sich jede Menge Gesindel herumtreibt. Eine Assistenzärztin wollte nach ihrem Dienst nach Hause fahren. Als sie sich ihrem Wagen nähert, sieht sie, dass ein Reifen platt ist. Ein ›barmherziger Samariter‹ bietet ihr an, den Reifen zu wechseln – wahrscheinlich hat er ihn zuvor eigenhändig plattgestochen. Er sagt, er müsse nur schnell im Gebäude gegenüber, einer fünfstöckigen Mietskaserne, bei seiner Schwester das richtige Werkzeug holen, und bietet ihr an, im Foyer auf ihn zu warten, damit sie nicht draußen in der Kälte stehen muss. Sie überqueren gemeinsam die Straße – drei Zeugen haben das beobachtet. Ihren Aussagen nach benimmt sich der Mann sehr höflich, hält sie am Arm und warnt sie vor dem Verkehr. Im Foyer muss er dann ein Messer gezückt haben. Dafür gibt’s natürlich keine Zeugen mehr. Alles, was wir haben, ist eine vertrauensselige junge Ärztin im weißen Kittel, die mit acht Stichen in Brust und Unterleib, ohne Unterwäsche und mit heruntergezogenem Rock hinter der Treppe aufgefunden wurde. Und wieder kein Hinweis auf ein Sexualverbrechen – kein Sperma, keine Schamhaare, keinerlei Spuren einer Vergewaltigung. Und jetzt sag du mir, ob es sich um eine aus welchen Gründen auch immer missglückte Vergewaltigung handelt, oder ob der Täter ihr zehn Mäuse und den Pager geraubt und den Diebstahl als Vergewaltigung getarnt hat, um uns auf eine falsche Fährte zu führen? Ist es Zufall, oder hat unser Mann zum zweiten Mal zugeschlagen?«
Ich wusste keine Antwort. Ich versuchte, mir das Verbrechen vorzustellen, und empfand angesichts des Verlustes eines weiteren wertvollen Menschenlebens tiefe Bestürzung.
»Ist sie tot?«
»Kann nicht mehr lange dauern, bis sie’s ist. Es sind nur noch sehr schwache Hirnströme messbar.«
»Du hast von Zeugen gesprochen.«
»Ja, die Leute, die gesehen haben, wie der Typ vor dem Krankenhauseingang rumhing und sie dann später bei ihrem Wagen ansprach. Latino, männlich, ein Meter siebzig, drahtige Figur. Sah ziemlich schmutzig und abgerissen aus; möglicherweise ist er obdachlos wie die anderen tausend in den Straßen rund ums Krankenhaus. Er trug ein Wollhemd und eine grüne OP-Hose. Jedenfalls war er kein Kollege, so viel steht fest. «
»Was denkst du jetzt?« fragte ich, und im selben Moment wurde mir klar, wie dumm die Frage war.
»Keine Ahnung, was ich denke. Ich weiß nicht, ob es nur ein blödes zeitliches Zusammentreffen zweier voneinander unabhängiger Verbrechen ist, oder ob es sich um das Werk eines Irren handelt, den wir aus den Katakomben des Mid-Manhattan vertrieben haben und der sich nun das Columbia-Presbyterian ausgesucht hat. Ich bin mir mittlerweile nicht mal mehr sicher, ob Gemma Dogen nicht doch einer versuchten Vergewaltigung zum Opfer gefallen ist und sterben musste, weil sie versuchte, sich zu wehren – wie die Frau von heute Nacht. Genauso gut kann aber auch deine Vermutung zutreffen, dass Gemma Dogens Ermordung nur als Vergewaltigung getarnt werden sollte. Ich habe keine Ahnung.«
»Und wie viele Frauen müssen noch sterben, bis wir es endlich wissen?«
»Hey, Blondie, Kopf hoch, wir werden’s herausfinden. Wir haben sechs zusätzliche Kollegen aus der Mordkommission dazubekommen. Ich ruf dich im Büro an, sobald ich mehr Einzelheiten habe.«
Ich ging in die Küche und machte mir einen Kaffee, dann verschwand ich unter der Dusche. Ich fragte mich, warum Drew nicht angerufen hatte. Wenig später schlüpfte ich in die Klamotten, die ich schon am Vorabend bereitgelegt hatte. Der Portier half mir, mein Gepäck im Taxi zu verstauen, und ich beschloss, in der einen Stunde, die ich früher als gewöhnlich im Büro war, meinen Schreibtisch aufzuräumen.
Als beim Betreten meines Zimmers um Viertel nach sieben schon das Telefon klingelt, konnte ich es kaum glauben.
»Hallo, Alex? Hier ist Stan.«
Stan Westfall. Einer meiner Mitarbeiter, der zwar im Gerichtssaal nicht schlecht war, sich aber im täglichen Leben etwas ungeschickt anstellte.
»Ich hab’ da ein Problem. Gerade hab’ ich versucht, dich zu Hause zu erreichen, aber da nur der Anrufbeantworter ranging, dachte ich mir, du wärst vielleicht schon im Büro.« Seine Stimme hörte sich leicht panisch
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