Notaufnahme
er Gemma die Schuld?«
»Nicht direkt. Tatsache ist, dass Carla Renaud ohne den Eingriff nicht mehr als vier Wochen geblieben wären. Binchy hat die Operation sicher nicht leichtfertig angesetzt, Miss Cooper, es war vielmehr ihre letzte Chance auf eine Rettung. Aber leider waren alle Bemühungen vergebens. Aber was hat diese Sache mit Ihren Ermittlungen zu tun?«
Mike, der hinter mir in der Tür erschienen war, antwortete für mich. »Wie ich Ihnen bereits sagte, Doc, wir müssen jede Möglichkeit in Betracht ziehen. Kurz vor Weihnachten beispielsweise hat sich ein Mann in eine New Yorker Krebsklinik eingeschlichen und dem Arzt, der fünf Jahre zuvor seinen Sohn behandelt hatte, das Gesicht zerschnitten. Der Junge war trotz aller ärztlicher Bemühungen an Leukämie gestorben, und der Vater war niemals über den Tod seines Jungen hinweggekommen. So stellt sich in unserem Fall natürlich die Frage, ob der verbitterte Witwer vielleicht ähnliche Rachegefühle hegte.«
Bei der Erinnerung an die Sache verfinsterte sich Dogens Miene. »Nun, ich erinnere mich gut an den Ehemann – er ist Anwalt, nicht wahr? Ich weiß, dass er damals in Erwägung zog, einen Prozess gegen Binchy, Gemma und das restliche OP-Team zu führen. Aber so weit ist es, glaube ich, dann doch nicht gekommen. Der Ärmste war nach dem Tod seiner Frau völlig verzweifelt, doch nach dem ersten Schmerz hat wahrscheinlich die Vernunft gesiegt. Ich weiß nicht, ob Gemma je wieder von ihm gehört hat.«
Anschließend packten Mike und ich unsere Unterlagen zu den Zeugenvernehmungen aus und befragten Dogen zu verschiedenen Punkten. Für Creavey hatten wir Kopien angefertigt, so dass er unser Gespräch mitverfolgen konnte.
Als wir zu dem Autopsie-Bericht kamen, reichte Mike Dogen das einige Seiten umfassende Dokument. »Es gibt keinen Grund, Ihnen diese Details vorzuenthalten, Doc. Es ist zwar ziemlich hart, aber die medizinischen Einzelheiten interessieren Sie sicher. Vielleicht lesen Sie sich den Bericht durch und beantworten uns dann die eine oder andere Frage.«
Bereits nachdem er einen Absatz überflogen hatte, erhob sich der sanftmütige Arzt, schritt mehrmals im Raum auf und ab, schüttelte dabei ungläubig den Kopf und ließ sich schließlich wieder auf seinen Stuhl fallen. Es fiel ihm sichtlich schwer zu begreifen, auf welch grausame Weise Gemma zu Tode gekommen war.
Nachdem wir fast fünf Minuten schweigend auf unseren Stühlen verharrt hatten, tippte Mike mich an und deutete zur Tür. Creavey folgte uns aus dem Raum. Während Geoffrey Dogen fassungslos auf die Bilder der Toten – seiner besten Freundin und ehemaligen Frau – starrte und versuchte, das Unvorstellbare zu begreifen, schnappten wir draußen bei einem kurzen Spaziergang etwas frische Luft. Als wir eine Viertelstunde später wieder den Raum betraten, war unschwer zu erkennen, dass Dogen geweint hatte. Bevor er das Wort ergriff, schneuzte er sich die Nase.
»Nun, ich weiß, dass Gemma eine Kämpfernatur war. Sieht so aus, als hätte der Täter damit gerechnet.«
Ich überließ Mike das Wort. »Ja. Deshalb vermuten wir, dass sie ihren Mörder kannte. Er muss gewußt haben, dass sie nachts oft allein in ihrem Büro war und dass sie bei seinem Anblick nicht gleich erschrecken würde. Vielleicht begann das Ganze als Unterhaltung, weil der Täter glaubte, das Problem ließe sich mit Worten aus der Welt schaffen. Aber er war ganz offensichtlich auf eine tätliche Attacke vorbereitet, falls er sein Ziel anders nicht erreichte.«
»Er fesselte sie und legte ihr einen Mundknebel an?«
»Ja, zu diesem Ergebnis ist der Gerichtsmediziner gekommen. Aber schon eine der zahlreichen Stichwunden hätte ausgereicht, um sie zu töten. Wenn er ihr die Verletzung am Rücken zuerst zugefügt hat, dann fesselte er sie möglicherweise erst danach und setzte anschließend das Gemetzel fort.«
»Aber dann hätte sie sicherlich geschrien …«
» Doch keiner hörte es. Es ist wahrscheinlich einfacher, einen Toten in der Leichenhalle zum Leben zu erwecken, als um zwei Uhr morgens jemanden auf dem Gang vor Gemmas Büro anzutreffen. Selbst wenn Gemma geschrien hätte, bevor er ihr den Mundknebel anlegte, hätte ein erneuter Messerstich sie schnell zum Schweigen gebracht.«
»Wie konnte der Mann versucht haben, sie zu vergewaltigen – in diesem Zustand? Nur ein Verrückter würde so etwas tun, was meinen Sie?«
»Genau das will er uns glauben machen. Wer einmal den Fuß ins Mid-Manhattan gesetzt hat,
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