Notaufnahme
Zusammenhang zwischen den seltsamen Beschriftungen der Ordner und Gemmas Interessen gab.
Ich hatte keine Möglichkeit, ohne das Wissen der Krankenhausverwaltung in Gemmas Büro im Minuit zu gelangen, aber ich besaß die Schlüssel zu ihrer Wohnung; seitdem ich mit Mercer dort gewesen war, lagen sie auf meinem Nachttisch, weil ich vergessen hatte, sie zurückzugeben, und mich auch niemand nach ihnen gefragt hatte. Die Miete für die Wohnung war bis Ende des Monats bezahlt, und Geoffrey Dogen hatte bereits Anweisungen erfeilt, wonach Gemmas Kleidung an eine karitative Einrichtung gegeben und ihre übrigen persönlichen Dinge zu ihm nach England geschickt werden sollten.
Noch unentschlossen, ob ich mir mit einer Freundin die Ausstellung ansehen oder meine Zeit lieber mit etwas Sinnvollem verbringen und noch einmal die Ordner in Gemmas Wohnung unter die Lupe nehmen sollte, ging ich ins Schlafzimmer. Dort nahm ich den Tower-Bridge-Anhänger vom Nachttisch und spielte mit den Schlüsseln, während ich die vertrauten Nummern wählte. Lesley Latham hielt sich laut Auskunft ihres Mannes geschäftlich in Houston auf, und Esther Newton war gerade auf dem Sprung, um sich im Madison Square Garden ein Spiel der Huskies anzusehen.
Ich hinterließ David Mitchell auf Band, dass ich wieder aus London zurückgekehrt war, und fragte an, ob er Lust habe, später am Abend mit Renee auf einen Sprung bei mir vorbeizukommen. Dann teilte ich Mike via Anrufbeantworter mit, dass DuPre seine Route geändert hatte.
Noch immer unentschlossen, wohin ich wollte, steckte ich einen frischen Notizbock und Gemmas Schlüssel in meine Handtasche. Das Kunstmuseum war nur vier Blocks entfernt, doch als ich an der Ecke zur Park Avenue im Nieselregen darauf wartete, dass die Ampel auf Grün sprang, hielt ein Taxi vor mir, um einen Fahrgast abzusetzen. Meine Entscheidung war gefallen.
Der Taxifahrer ließ mich vor Gemmas Apartmenthaus raus. In der Halle sah ich nur einen Portier; ich setzte ein freundliches Lächeln auf und ging auf ihn zu, um ihm zu erklären, wer ich war und was ich wollte, doch der Mann blickte nicht eine Sekunde von seiner Daily News auf. Also ging ich an ihm vorbei und rief den Aufzug.
Wie ich es erwartet hatte, überfiel mich auch diesmal Nervosität; der Gedanke, mich allein in der Wohnung einer Toten aufzuhalten, hatte etwas Gespenstisches.
Die beiden Türschlösser ließen sich mühelos öffnen, und wie schon beim ersten Mal schreckte ich bei einem Geräusch zusammen, doch diesmal war es nur der Widerhall des Zuschlagens von Gemmas Wohungstür, das mich irritiert hatte. Ich dachte an William Dietrich und andere, die möglicherweise ebenfalls Schlüssel zu dem Apartment besaßen. Deshalb schloß ich die Tür von innen ab und legte die Kette vor.
Alles war mehr oder weniger so, wie Mercer und ich es vor einigen Tagen zurückgelassen hatten. Ich wusste, dass seitdem mehrere Detectives auf Anweisung des Lieutenants hier gewesen waren, und möglicherweise hatte auch schon der eine oder andere Makler die Wohnung besichtigt. Ich ging durch die Zimmer, entdeckte aber nur wenige Veränderungen.
Das Buch über Wirbelsäulenverletzungen lag nicht mehr auf dem Nachttisch, die Türen des Kleiderschranks standen offen, und der Schrank selbst war leer. Am Rahmen des Schranks klebte ein gelber Zettel mit einem von Hand gezeichneten Pfeil und der Aufschrift »An die Sozialstation in der Third Avenue liefern«.
Im Wohnzimmer betrachtete ich die Fotos mit neuem Interesse. Einige der Gesichter erkannte ich jetzt: Geoffrey Dogen, Gig Babson, verschiedene von Gemmas Kollegen aus dem Minuit. Die Bücher und CDs waren noch an ihrem Platz, aber der CD-Player und der kleine Fernsehapparat waren verschwunden. Ich nahm mir vor herauszufinden, ob alles ordnungsgemäß abgewickelt worden war – ein typisches Problem, wenn die Angehörigen eines Mordopfers nicht am selben Ort wohnten.
Ich schaltete den alten Radiowecker auf dem Tisch ein und suchte die Sender ab, bis klassische Musik die bedrückende Stille vertrieb. Die Bewohner des Nachbarapartments mussten schwerhöriger als meine verstorbene Großmutter sein, denn die schrille Stimme des Moderators des Home Shopping Kanals drang sogar durch die Wand. Offenbar fand eine Art Ausverkauf statt, denn die Preise fielen minütlich.
Ich kniete mich vor die Registratur und erinnerte mich daran, dass mir damals mehrere alphabetisch falsch einsortierte Ordner aufgefallen waren, aber die Registratur umfasste
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