Notaufnahme
langen Tag im Operationssaal spätabends über mein Bett beugte, um mir einen Gutenachtkuss zu geben. Das war noch in der Zeit, bevor man in der Anästhesie moderne Mittel einsetzte, aber ich liebte den abstoßenden Äthergestank, weil er die allabendliche Heimkehr meines geliebten und viel beschäftigten Vaters signalisierte.
Wenn mein Vater es ausnahmsweise einmal schaffte, rechtzeitig zum gemeinsamen Abendessen mit der Familie zu Hause zu sein, drehte sich das Gespräch nur um medizinische Themen. Meine Mutter war als ausgebildete Krankenschwester eine adäquate Gesprächspartnerin, und so bekamen meine Brüder und ich während der Mahlzeiten eine Menge medizinischer Details mit. Oft durfte ich an den Wochenenden meinen Vater in sein Büro im Krankenhaus begleiten, und auf diese Weise war ich schon früh mit den Gerüchen und Details einer Klinik vertraut.
»Sieh mal, wie der Junge mit der Machete umgeht«, stieß mich Mike an.
Ich beendete meinen Tagtraum und tauchte wieder in die Unterhaltung mit Chapman und Wallace ein, während der Kellner mit beeindruckender Geschwindigkeit und Präzision den Brustkorb der Ente zerteilte; die zarten Fleischstückchen stopfte er in hauchdünne Pfannkuchen, die bereits mit Schalotten und Hoisin-Sauce gefüllt waren.
»So was hab’ ich noch nie gesehen, Mercer, du etwa? Ich meine, ich hatte schon ‘ne Menge Latinos, die sich gegenseitig mit Macheten niedergemacht haben, aber ‘ne Machete zum Tranchieren einer Peking-Ente ist mir neu. Der Junge ist wirklich gut.« Mike biss herzhaft in seinen gefüllten Pfannkuchen, ohne abzuwarten, bis Mercer und ich unsere Portionen auf dem Teller hatten.
»Was gibt’s Neues aus Ihrem Liebesleben, Miss Cooper? Irgend etwas, das uns interessieren könnte?« erkundigte sich Mercer.
»Ich warte noch auf die Frühlingsgefühle.«
»Ich geb’ ihr noch ein paar Monate, bevor ich sie im Kloster anmelde. Sie wäre ‘ne tolle Nonne, findest du nicht auch, Mercer? Die kleinen Klosterschüler würden dich bestimmt an mich und McGraw erinnern, was, Blondie? Stell dir nur vor, wie viel Spaß es dir machen würde, ihnen mit dem Lineal den Hintern zu versohlen. Dann bräuchtest du dir keine Sorgen mehr um irgendwelche Ermittlungen zu machen, und außerdem wärst du nicht mehr traurig, wenn dich am Samstagabend niemand anruft. Oscar de la Renta würde bestimmt ‘ne schicke Tracht für dich kreieren, und …«
» Lach nicht, Mercer, sonst hört der Quatschkopf gar nicht mehr auf. Was ist eigentlich mit dir und Francine?«
Seit einiger Zeit traf sich Wallace mit Francine Johnson, einer meiner Kolleginnen aus der Spezialabteilung für Drogendelikte.
»Läuft prima, Coop, wirklich prima. Wenn ich nicht wieder Mist baue, wirst du Brautjungfer, einverstanden?«
Mike war eifrig bemüht, das Thema zu wechseln, bevor sein Privatleben an die Reihe kam. »Was weißt du über Neurochirurgie? Wir müssen herausfinden, was Dr. Dogen genau gemacht hat und was ihre Aufgaben waren, damit wir Bescheid wissen, bevor wir mit den anderen Ärzten sprechen. Dabei müssen wir ihre unterschiedlichen Rollen im Krankenhaus und in der Uni sehr genau trennen.«
»Mit wem sprichst du morgen nach der Autopsie zuerst?« fragte ich.
» William Dietrich, der Leiter des Krankenhauses, der mich heute rumgeführt hat, hat die ersten Vernehmungen organisiert. Die meisten Informationen habe ich bisher von ihm. Dann treffe ich mich mit Spector – dem Knaben, dessen Operation Gemma Dogen beiwohnen sollte.«
»Neurochirurgen neigen im allgemeinen dazu, sich als Crème de la Crème des Berufsstandes zu betrachten«, begann ich. »Als Gehirnspezialist genießt man ein ganz besonders hohes Ansehen – außerdem gehören die Jungs innerhalb der Medizin zu den bestbezahlten Ärzten.«
»Nach Spector sind noch ein paar andere Professoren dran und danach Studenten und Praktikanten. Dietrich will, dass ich auch mit den beiden spreche, die als Hilfsoperateure eingesprungen sind, nachdem Dogen nicht auftauchte.«
Er schlug seinen Block auf und ließ seinen linken Zeigefinger über die langen Namenslisten gleiten, während er mit den Stäbchen in seiner Rechten den Seebarsch bearbeitete. »Ah, hier haben wir sie. Ein Pakistani und einer von den feinen Pinkeln mit zwei Nachnamen. Ich schwöre dir, dass jeder zweite Arzt auf meiner Liste ‘nen Turban trägt.«
»Wann wirst du endlich mit deinen diskriminierenden Kommentaren aufhören?« Mikes ethnische Verunglimpfungen störten unsere
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