Notaufnahme
ihrem kalifornischen Strandhaus meinen Winter in New York noch trister und einsanier erscheinen lassen. Aber an diesem Abend, in der Euphorie, die die Aussicht auf einen neuen, spannenden Fall in mir ausgelöst hatte, wollte ich Nina wissen lassen, dass es mir gut ging.
Ich hörte die drei Nachrichten auf meinem Anrufbeantworter ab. Die Erste war von meinem Vater. Er hatte von seinem Haus auf St. Barth’s aus angerufen, um mir mitzuteilen, dass ihm ein ehemaliger Kollege von dem Mord im Mid-Manhattan berichtet hatte und ich jederzeit auf seine Hilfe zählen könne. Die zweite Nachricht stammte von Nina; es war die Antwort auf meinen Rush-Hour-Anruf. Sie wollte Näheres über meinen Fall wissen. Die letzte Nachricht hatte Joan Stafford hinterlassen, die mich an die Dinner-Party am kommenden Samstag um acht erinnerte. »Und bitte keine so abwegigen Ausreden wie Mord oder ähnliches.«
Ich versuchte, mich zu entspannen und den Tag hinter mir zu lassen, und griff nach dem Buch von Trollope, das neben meinem Bett lag. Ich hatte The Eustace Diamonds am Wochenende in Angriff genommen und wusste, dass ich nur zehn, elf Seiten in dem herrlichen Krimi aus dem vorigen Jahrhundert lesen musste, bis meine Lider schwer wurden und ich das Licht löschte.
Ich hatte gehofft, Gemma Dogen für den Rest des abends aus meinen Gedanken verbannt zu haben, doch immer wieder kreiste in meinem Kopf die Frage, ob ihr Tod außer mir selbst noch jemandem den Schlaf raubte – sei es aus Trauer oder aus Schuld.
8
Don Imus entsprach vielleicht nicht jedermanns Traum vom Aufwachen, aber auf mich wirkte er Wunder.
Um sieben klingelte mein Wecker, und automatisch ging das Radio an. Imus verlas die Nachrichten; sie wurden eingeleitet von einer Kurzreportage über das Mid-Manhattan, in der, angefangen bei dem Mord bis hin zu den unterirdischen Bewohnern, nichts fehlte. »Scheint so, als wäre das Bates Motel dagegen harmlos«, bemerkte er und imitierte im nächsten Augenblick einen Patienten der Stuyvesant-Psychiatrie, der die Hörer auf einem Rundgang durch die Klinik begleitete. Nur widerwillig schaltete ich das Radio aus, als ich das Schlafzimmer verließ, und hoffte inständig, dass Imus und seine Redakteure, die im Prozess gegen Simpson besser als die gesamte Presse des Landes berichtet hatten, dem Täter nicht vor uns auf die Spur kamen.
Ich schlüpfte in meinen schwarzen Mantel, trat wenig später in die Kälte hinaus und winkte ein Taxi herbei. Da der Fahrer den Weg nach Lower Manhattan zum Gerichtsgebäude kannte, konnte ich mich meiner Times widmen.
Der Mord an Gemma Dogen nahm die Titelseite ein und wurde nicht im Lokalteil abgehandelt. Zum Teil hing das sicher mit der Bekanntheit ihrer Person zusammen, ausschlaggebend war aber wohl die Tatsache, dass sich der Mord in einem Krankenhaus abgespielt hatte. Die Leser der Times waren in der Regel sowohl räumlich als auch geistig ein gutes Stück entfernt von den Wohnvierteln, in denen die meisten Morde geschahen – weit entfernt von jener Umgebung, in der Gewalt, Bandenkrimininalität und Mord an der Tagesordnung waren. Aber kaum trug sich ein derartiges Verbrechen in einem Milieu zu, das auch »wir« frequentierten – etwa in einem großen Krankenhaus, im Central Park oder in der Metropolitan Opera –, bekam der Tod eine andere Dimension. Und das bedeutete einen Platz auf der Titelseite, und zwar ganz ganz oben.
Ich las den Bericht sehr aufmerksam, um zu sehen, wie akkurat die Fakten wiedergegeben wurden und ob jemand aus dem NYPD etwas ausgeplaudert hatte. Letzteres schien nicht der Fall zu sein; niemand hatte sich dazu hinreißen lassen, die Namen möglicher Verdächtiger – auch nicht die unserer acht »Reviergäste« – oder sonstige interne Informationen preiszugeben.
Nachdem ich die Kommentare, die Bücherrezensionen und die Donnerstagsbeilage über eine bevorstehende Versteigerung antiker Stickereien studiert hatte, hielt mein wortkarger Fahrer vor dem Gebäude 100 Center Street, öffnete die Kunststoffkassette und kassierte seine vierzehn Dollar und dreißig Cent.
»Wie immer?« fragte mich der Mann hinter dem ambulanten Kaffeestand.
»Heute das Ganze zweimal, bitte. Geben Sie mir zwei große schwarze Kaffee.«
Die meisten Kollegen kamen erst nach neun, aber vereinzelt trudelten bereits einige Anwälte aus allen möglichen Richtungen ein, da in den Straßen rund um das Gerichtsgebäude verschiedene U-Bahn- und Bus-Strecken ihre Haltestellen hatten.
Hinter mir betrat
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