Notbremse
Männerstimme.
»Ich bin’s«, sagte Sylvia so leise, als habe sie Angst, jemand könnte das Gespräch belauschen. »Hast du Nachrichten gehört?«
Pause. »Nachrichten? Was soll diese Frage?« Die Stimme des Mannes, die stets einen dynamischen Unterton hatte, klang seltsam zweifelnd.
»Im Zug ist einer umgebracht worden.«
»Im Zug?«
»Ja, im Zug«, wiederholte sie ungeduldig. »Im Zug nach Stuttgart. Ist gerade in den Nachrichten gekommen.«
»Und … ich mein … haben sie sonst noch etwas gesagt?«
»Nur, dass der Zug in Geislingen durchsucht wird.«
»Aber keine Namen?« Der Angerufene hatte sich offenbar schnell wieder gefangen und wollte, wie es im Geschäftsleben üblich war, sofort Fakten hören.
»Nein, natürlich keine Namen. Aber ich hab ein ganz ungutes Gefühl.«
»Ach, Sylvia.« Er klang charmant wie immer. »In so einem Zug sitzen 300 bis 400 Leute. Du solltest …«
»Und wenn doch?«, unterbrach sie ihn. »Wenn sie ihn jetzt doch eliminiert haben?« Kaum hatte sie es gesagt, erschrak sie über diese Formulierung. Aber sie war mit diesem Jargon in den vergangenen Wochen oft genug konfrontiert worden.
Der Mann schien nachzudenken. »Und selbst wenn es so sein sollte«, erklärte er sachlich, »dann wird es keine Spuren geben. Unser Mann ist absolut zuverlässig und diskret.«
Sie schluckte. »Woher bist du dir denn so sicher, dass er das Opfer sein könnte? Es könnte doch auch möglich sein, dass er sich hat wehren müssen, oder?«
»Lass dir jetzt auf keinen Fall etwas anmerken. Wir treffen uns heut Abend, okay? Bis dahin wissen wir mehr.«
»Du«, versuchte Sylvia das Gespräch noch zu verlängern, »du – versprich mir: Egal, was da gelaufen ist, ich will in nichts hineingezogen werden.«
»Sylvia«, sagte der Mann und betonte den Namen so, als ob zwischen ihnen beiden auch ohne viel Worte alles klar sei. »Du brauchst dir wirklich keine Sorgen zu machen.«
»Und wenn die Polizei kommt?« Angst und innere Unruhe hatten plötzlich von ihr Besitz ergriffen.
»Sylvia«, wiederholte die Stimme noch eine Spur beruhigender. »Es gibt nichts, was wir uns vorwerfen müssten.«
6
Häberle hatte über seine neue Chefin Manuela Maller mehrere Einsatzhundertschaften der in Göppingen stationierten Bereitschaftspolizei angefordert, dazu zwei Hundeführer und den Hubschrauber der Landespolizeidirektion. Wenn der Unbekannte, der auf der Geislinger Steige aus dem Zug geflüchtet war, etwas mit dem Toten zu tun hatte, und danach sah es zweifelsohne aus, dann musste eine Suchaktion eingeleitet werden, auch wenn die Wahrscheinlichkeit, dass sie erfolgreich sein würde, eher gering war.
Bei allem, was die Zeugen berichteten, war er in dem großen Waldgebiet am Steilhang der Schwäbischen Alb verschwunden. Dort, das wusste der Chefermittler von seinen ausgedehnten Wanderungen, gab es zwar einige Forstwege, aber auch Taleinschnitte und dichtes Unterholz. Eine gewisse Chance bestand, dass er sich hier irgendwo verborgen hielt. Andererseits aber, so überlegte Häberle, lag die Notbremsung inzwischen über eine Stunde zurück. Da hatte der Geflüchtete genügend Zeit gehabt, per Handy Hilfe herbeizurufen und sich auf der Hochfläche am Waldrand abholen zu lassen. Allerdings hätte dies wiederum den etwaigen Chauffeur zu einem unliebsamen Mitwisser machen können.
Nachdem es weder für die eine, noch für die andere Theorie Hinweise gab, ließ Häberle »das große Programm ablaufen«, wie er es zu formulieren pflegte: Durchsuchung des Geländes zu Fuß und aus der Luft. Während der Hubschrauber aus Stuttgart innerhalb kürzester Zeit den Einsatzort erreichte und in nur doppelter Baumwipfelhöhe am bewaldeten Hang entlangschwebte, taten sich die Suchmannschaften am Boden weitaus schwerer. Um sie nicht zu gefährden, verkehrten die Züge in diesem Bereich nur noch auf Sicht, was etwa Tempo 20 bedeutete. Denn an jener Stelle, an der die Notbremse gezogen worden war, musste eine ausgiebige Spurensicherung erfolgen.
Für die Beamten gestaltete sich der Zugang zu dem mit Springbrunnen geschmückten Denkmal als äußerst schwierig. Selbst unter den Kollegen der Bundespolizei fand sich niemand, der den Weg dorthin kannte. Ein Schutzpolizist des Geislinger Reviers schlug deshalb eine verwachsene Auffahrt vor, die von der Bundesstraße 10 abzweigte und steil zu der Gleisanlage hochführte. Früher stand dort oben ein Bahnwärterhäuschen. Jetzt diente der Weg nur noch den Bautrupps der Bahn, um direkt an
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