Notizen aus Homs (German Edition)
keinen Fuß setzen würde. Wir fahren durch die Dublin-Straße, durch die Corniche, eine große Straße im Zentrum, dann schlängeln wir uns durch kleine Straßen, um die Straßensperren zu umgehen, durch oppositionsfreundliche, aber nicht gesicherte Viertel. Nach ungefähr zwanzig Minuten sind wir in Khaldije. Dort, erste Überraschung: eine Straßensperre der FSA an der Zufahrt zum Viertel, mit Sandsäcken und bewaffneten Männern. Raed ist erstaunt, die gab es im November noch nicht, das bedeutet, dass die FSA erheblich stärker geworden ist, wenn sie es wagen, sich so nah am Zentrum so offen zu zeigen. Der Posten wurde vor zwei Tagen aufgestellt; etwas weiter ist noch einer, der seit einem Monat dort steht. Er bewacht den Zugang zum zentralen Platz, auf dem die Demonstrationen stattfinden. Wir kommen recht schnell dorthin. Ich zittere vor Fieber und verschlinge eine Art Pizza mit Käse und scharfer Sauce, die ein Straßenhändler vor meinen Augen backt, während wir auf Bilal warten, der mit seiner aufbrausenden Freundin Zain eintrifft. Zain ist verschleiert, trägt aber Jeans und Wanderstiefel, so etwas würde man in Baba Amr niemals sehen. Bilal hat einen Arm in Gips, er hat eine Kugel abbekommen, als er vor vier Tagen einen Verwundeten bergen wollte.
Erster sichtbarer großer Unterschied zu Baba Amr: die Präsenz der Frauen. In Baba Amr sind sie, außer bei den Demonstrationen, fast unsichtbar, während sie hier überall sind, mitten unter den Männern. An Details wie diesen erkennt man, was für ein konservatives Viertel Baba Amr ist.
*
Gegen 15 Uhr Besuch eines Untergrund-Gesundheitszentrums mit Bilal. Wir bekommen Tee, und Zain zeigt mir auf ihrem Smartphone einen langen, von ihr selbst genau hier gefilmten Clip von einem Taxifahrer, der eine Kugel ins Gesicht bekommen hat und auf dem Boden vor dem Sofa, auf dem ich gerade sitze, mit dem Tod ringt, während die Ärzte verzweifelt versuchen, ihn mit Intubation und Herzmassage am Leben zu erhalten. Der Mann liegt in einer Blutlache, sein Hirn schon zur Hälfte auf dem Fußboden. Er stirbt.
Sie zeigt mir einen anderen Film von der Leiche eines jungen Mannes mit sauber gestutztem Bart, der am selben Tag wie der Taxifahrer getötet wurde. Es war ein Soldat der FSA, Abu Saadu, der zu den mukhabarat -Soldaten eines Postens gegangen war, um sie zu überzeugen, sich der FSA anzuschließen. Ein mukhabarat legte seine Waffe auf den Boden und sagte: Einverstanden, ich werde mich euch anschließen. Abu Saadu kam näher, und der mukhabarat zog eine versteckte Pistole und tötete ihn mit einem Schuss ins Auge. Video von einem anderen jungen Toten, dem von einem Scharfschützen in die Kehle geschossen wurde, von einer verschleierten Aktivistin, Gesicht hinter einer Sonnenbrille verborgen, die vor der Mutter und dem Sohn eines Märtyrers über Mikrophon eine Menge anheizt.
Eine der Krankenschwestern hat für den Roten Halbmond gearbeitet. An einem Checkpoint wurde ihr gesagt: »Wir schießen auf sie, und ihr rettet sie.« Sie erklärt, dass der Rote Halbmond nicht in alle Viertel kommen kann, weil regelmäßig auf sie geschossen wird. Deshalb machen sie telefonisch ein Treffen mit den Ärzten vor Ort aus, die ihnen den Verwundeten an einen sicheren Ort bringen.
Bilals Verletzung. Die Armee hatte einen Mann mit einem Schuss in den Hals verwundet. Sie dachten, er wäre tot. Sie haben ihn woanders hingebracht, haben ihn auf den Boden gelegt, dann haben sie Bilal angerufen oder einen seiner Kontaktmänner, damit sie ihn abholen, es war eine Falle. Bilal ist mit einem Freund gekommen, die Armee erwartete sie und eröffnete das Feuer …
Fortsetzung folgt, denn es trifft ein Verwundeter in einem Auto ein, er wird in das Zentrum getragen und auf den Bauch gelegt. Er stöhnt, schreit: »Allah, Allah!« Er hat eine Kugel im unteren Rücken. Jung, dick, bärtig, um die dreißig, seine Arme hängen an den Seiten des Behandlungstisches herunter. Die Beine spürt er nicht. Sehr wenig Blut. Japst, stöhnt. Hat Schmerzen am Bauch. Bilal fragt ihn: »Wirst du gesucht?« – »Nein.« Bilal ruft das Krankenhaus an, er muss sofort evakuiert werden.
Zweifellos gelähmt. Injektion, Tropf. »Mein Bauch, mein Bauch«, stöhnt der Mann pausenlos. Blutet nicht zu sehr, die Kugel ist nicht wieder ausgetreten. In die Wirbelsäule getroffen. Der Rote Halbmond kommt schnell, nach 7–8 Minuten, und evakuiert ihn. Nimmt seinen Ausweis.
Herzlich willkommen in
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