Notizen aus Homs (German Edition)
Bergen aus Müllsäcken, die sich auf der Straße stapeln. Auf einer Seite ein großes Spruchband: »Nein zur imaginären Opposition, einer Erfindung der Banden von Assad. Der SNC vereint uns, die Splittergruppen entzweien uns.« Klare Loyalitätserklärung der Demonstranten an den Syrischen Nationalrat. Abgesehen von der Ecke mit der Uhr, die von den Scheinwerfern der Demonstration angestrahlt wird, ist alles dunkel. Nur ein paar Läden, ein Friseur mit einem schönen roten Sessel, heben sich in der Dunkelheit ab, die Passanten tauchen im Scheinwerferlicht der Autos auf wie Phantomschatten.
Die Uhr ist umgeben von Straßenhändlern, dort haben wir Bilal getroffen, als uns das Taxi abgesetzt hatte. Raed trifft einen kleinen blonden Jungen wieder, mit sehr roten Fingern und fröhlichem Lächeln, den er im November fotografiert hatte. Vieles hat sich seither geändert, die Aktivisten von der Information filmen jetzt, ohne ihr Gesicht zu verstecken. Der Junge ist 11 und heißt Mahmud. Er ruft aus: »Wie bist du in dein Land zurückgekommen, ohne von den Straßensperren erwischt zu werden? Du bist ein starker Mann, ein Held.«
Die Menge versammelt sich zur Demonstration. Der Anführer zählt die aufständischen Städte auf: »Idlib, wir sind bei dir bis in den Tod! Telbisa, wir sind bei dir bis in den Tod! Rastan, wir sind bei dir bis in den Tod!« Etc.
Ein Junge fängt falsch und heiser an zu singen, und die Reihentänze beginnen.
Der Anführer: »Wir lehnen uns nicht gegen die Alawiten auf, auch nicht gegen die Christen. Das Volk ist vereint!«
Alle: »Das Volk, das Volk, das Volk ist vereint!«
Anführer: »Wir geben uns nur in Gottes Hände, nicht in die der Arabischen Liga, nicht in die der Beobachter, nicht in die der NATO!«
Alle: »Wir geben uns nur in Allahs Hände!« (3x)
Das Außergewöhnliche an diesen Demonstrationen ist die Kraft, die von ihnen ausgeht. Eine kollektive, allgemeine Freude, eine Freude des Widerstands. Und sie dienen nicht nur als Ventil, als Moment des kollektiven Abreagierens für die ganze Spannung, die sich seit elf Monaten ansammelt; sie geben den Teilnehmern auch neue Energie, sie erfüllen sie täglich mit Kraft und Mut, mit denen sie die Morde, die Verletzungen, die Trauer weiter ertragen können. Die Gruppe produziert Energie, die dann von jedem Einzelnen wieder aufgenommen wird. Dazu dienen auch die Gesänge, die Musik und die Tänze, sie sind nicht nur Kampfansagen und Parolen, sie sind auch – genau wie der dhikr , dessen Form sie annehmen – Erzeuger und Empfänger von Kraft. Deshalb halten die Leute durch, immer wieder, dank der Freude, des Gesangs und des Tanzes.
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Internetcafé, etwas weiter, am Ende einer Straße. Einem Typen zufolge gab es heute 39 Tote in Homs, davon 23 in Bab Tadmor. Die Armee hat bombardiert.
Dieses Internetcafé ist der Unterschlupf aller Aktivisten von Khaldije, die hier auf YouTube und in den sozialen Netzwerken die Arbeit ihres Tages posten, Filme von Demonstrationen oder Gräueltaten. Raed hat dort im November viel Zeit verbracht, und für einige Zeit wohnte er in einer Wohnung genau darüber, von deren Balkon er eines Tages einrückende gepanzerte Fahrzeuge der Sicherheitskräfte fotografieren konnte. Ich checke dort meine Mails, antworte, dann schreibe ich den Bericht über die Fahrt von Baba Amr nach Khaldije.
23 Uhr. Ein Freund von Bilal holt uns mit einem Kleintransporter im Internetcafé ab. Als wir losfahren, schaltet er zum Passieren eines FSA-Checkpoints das Licht im Wagen an, dann macht er das ganze Licht aus, auch die Scheinwerfer, und wir fahren so schnell wie möglich im Dunkeln über die Kairo-Straße. In der Wohnung gibt es immer noch keinen Strom.
Es gibt sogar im ganzen Viertel keinen Strom. Ein Panzer hat den Transformator zerstört.
Bilal erzählt: Vor drei Tagen haben die schabbiha in Inschaat eine Anwältin, die die politischen Gefangenen verteidigte, mit Chloroform betäubt, entführt und äußerst brutal geschlagen.
Der verantwortliche Offizier der FSA in Khaldije ist der mulazim awwal Omar Schamsi. Raed kennt Schamsi, er hat ihn im November in Telbisa fotografiert. Er gehörte zur katiba Khaled ibn Walid. Er wurde eingeladen, nach Khaldije zu kommen und Soldaten auszubilden. Es gibt jetzt regelmäßigen Austausch von Offizieren zwischen den katibas .
Dies ist ein wichtiger Punkt. Die FSA war zu Beginn sehr territorial organisiert: Wenn die Offiziere aus der Armee
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