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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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wir ihn aufnehmen in die Reihe unserer Lieben, hier an dieser Wand.«
    Den letzten Satz sprach sie rasend schnell und was sie nachher noch nuschelte, kam mir vor, wie » Alles andere besprechen wir später«. Sicher war ich mir jedoch nicht. Was sie mit Wand meinte, erfuhr ich aber sogleich, denn sie hoben Jens' Bild in die Höhe und trugen es andächtig zu einer reich bebilderten Wand im Saal, wo sie es ans Ende der zweiten Reihe aufhängten. Wie eine Traube versammelten sich diese Menschen um Jens' Abbild herum, hoben die Gläser, als gäbe es etwas zu feiern. Man trank dem Porträt zu, schaute mich und Marc, der Fingernagel knibbelnd in einer Ecke stand, wohlwollend an und verteilte sich anschließend in alle möglichen Winkel des Hauses.
    Ich zog Marc am Ärmel und setze mich mit ihm auf die nächstbeste Couch. Es war die erste Gelegenheit, uns heute alleine zu sprechen, aber Marc versank teilnahmslos in seinem Glas, das nach einer ekelhaften Mischung aus Schnaps und Champagner roch. Woher hatte er den Schnaps bekommen? Es gab eine Bar in diesem Saal. Vielleicht hatte er sogar einen Flachmann in seinem Mantel versteckt. Marc ignorierte mich, bevor ich ihn überhaupt ansprach, indem er ohne Unterlass weiter in sein Glas hinein starrte. Ich gab es auf, ihn anzusprechen.
    Zurückgelehnt beobachtete ich die Leute, die sich munter unterhielten. Selbstmordgefährdet sollten sie sein, wenn man dem Vereinszweck glaubte, und ich fragte mich, während ich sie betrachtete, wer von ihnen Betroffener und wer Berater war. Zumindest einige mussten schon mal nach ihrem eigenen Leben getrachtet haben. Doch ich konnte äußerlich nicht mehr Unterschiede zwischen ihnen ausmachen, als es sie in jeder Gesellschaft gab. Man sah ihnen ihre seelische Qual nicht an.
    Jens hatte man es schon angesehen. Dieser stets sorgenvolle Blick von ihm, diese jammervoll gerunzelte Stirn, jedes Mal, wenn man ihn antraf, hatten seinem Gesicht den Stempel ›seelenkrank‹ aufgedrückt und er hatte sich nicht ungern im Mitleid der anderen gesuhlt. Im Gegensatz zu mir. Mir war es stets lieber gewesen, wenn niemand von meinen gehegten Gefühlen wusste. Ob Jens wirklich aus seinen düsteren Gedanken gerettet werden wollte? Da war ich mir nicht sicher. Wie viele Rettungsringe hatte ich ihm zugeworfen, denen er ausgewichen war? Wie oft hatte ich so getan, als stünde ich selbst wieder mit beiden Beinen auf gesichertem Boden, um ihm Stärke zu vermitteln. Ich konnte wahrhaftig nicht damit rechnen, dass er seine ständig wiederholten Andeutungen, die mich schon langweilten, weil sie nie durchgeführt wurden, tatsächlich wahr machen würde. Sein Selbstmord musste auch die Mitglieder dieses Vereins überrascht und schwer erschüttert haben, da es das Versagen all ihrer Bemühungen bedeutete. Erinnerte sie nicht der Freitod einer ihrer Freunde an ihre eigene Todessehnsucht? Von solch trüben Gedanken schienen sie jedoch alle recht fern.
    »Sie erlauben?«
    Ich schreckte auf. Alexander beugte sich zu mir herab, die Gesichtszüge ein bisschen spöttisch, wie beim letzten Mal den einen Mundwinkel höher gezogen, als den anderen. Doch heute wirkte er etwas weniger bestimmt, eher entrückt und jungenhaft ungefasst. Stolz bemühte er sich um Standfestigkeit, denn er schwankte merkbar, hielt sich mit einer Hand an seinem eigenen Glas fest und glich mit dem linken Bein am Tisch seine Schräglage aus.
    »Bitte!«, forderte ich ihn auf, aber da saß er bereits neben mir, presste sich sein Oberschenkel gegen meinen wegen der Enge auf dem Sofa. Er, eingezwängt zwischen mir und der Lehne. Ich, gequetscht zwischen ihm und Marc. Im Gegensatz zu seinem Körperkontakt spürte ich Marc auf der anderen Seite kaum. Alexanders Gesicht schwebte ungezwungen vor meiner Nase, in einer Nähe, welche die Wärme seiner Haut erahnen ließ. Rasierwasser strömte von Kinn und Kleidung und mischte sich mit Alkoholgeruch aus seinem Mund. Es war eine riskante Nähe, die leicht über unsere Sympathien füreinander Aufschluss geben konnte. Er reichte herüber zu unseren leeren Gläsern, die Marc und ich in den Händen hielten, und versuchte, uns Champagner nachzuschenken, doch es fiel ihm schwer, weil der Arm ebenso schwankte, wie sein gesamter Oberkörper.
    »Ein prima Kerl, der Jens«, nuschelte er.
    Besorgt folgte ich der Flaschenöffnung in seiner Hand mit meinem Glas, um aufzufangen, was er verschüttete.
    »Tschuldigung!«
    Theatralisch zauberte er aus seinem Sakko eine Papierserviette und

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