Notizen einer Verlorenen
erkannte ihn nicht sofort. Das Gesicht, das dunkelblonde Haar und seine schlanke Statur – das war schon Marc, aber nicht sein Gang. Die Art, wie er die Schritte setzte, so zögerlich, das war nicht er. Wie er sich an die Nase fasste, immer wieder, aus Betretenheit, so kannte ich ihn auch nicht. Und dennoch war es Marc. Er hob stumm und schlapp die Hand, als er mich kommen sah. Ich konnte mich nicht erinnern, Buchheim Marcs Adresse oder Telefonnummer übergeben zu haben.
»Marc«, flüsterte ich. »Woher weißt du …?«
»Ich wurde eingeladen«, flüsterte er zurück und wies nickend auf Buchheim und seine Mannschaft, die zu neunt erschienen waren. Sie standen da wie eine Gruppe übereinstimmend schwarz gekleideter Spione aus alten Filmen und unterhielten sich lebhaft. Ab und zu warfen sie einen verstohlenen Blick zu uns herüber.
»Woher hat er deine Adresse?«
Marc zuckte die Schultern. Sein Kopf zitterte ein wenig, als er ihn bewegte, um mich flüchtig anzusehen. Er sah schlecht aus. Fehlender Schlaf zeichnete dunkle Ränder in seine blasse Haut. Ich traute ihm einiges zu, doch selbst nach einer Woche ausschweifender Dauerparty vor drei Jahren hatte er gesünder ausgesehen. Dass es ihn so mitnahm, wie mich selbst, verblüffte mich. Marc hätte ich Saufen und Vergessen zugetraut, aber nicht die Fähigkeit zu leiden. Allzu schnell wich er meinem fragenden Blick aus. Dabei wäre ich die Letzte gewesen, die ihm heute etwas vorgeworfen hätte. Noch bevor wir ein intimes Gespräch führen konnten, rollten sie ein paar Meter weiter eine blumengeschmückte Handkarre heran. Jens' Überreste ruhten darauf in einer schwarzen Urne. Die Trauergäste setzten sich in Bewegung. Sie reihten sich zu zweit oder zu dritt ein und wir alle folgten dem Geräusch knirschender Reifen über Schotter bis zur Grabstätte. Das Grab selbst war klein. Doch alles darum herum war so üppig mit Blumen und Kränzen geschmückt, als hätte Jens zu Lebzeiten unendlich viele Freunde gehabt. Ich blickte mich um. Von den Anwesenden kannte ich außer Marc nur meine beiden seltsamen Gesprächspartner aus dem Verein. Sie standen nebeneinander, die Hände gefaltet vor dem Bauch. Heimlich beäugte ich Alexander aus der Entfernung. Er sah gut aus. Natürlich sah er gut aus – er war jung und athletisch, der Einzige, dem dieses schwarze Sakko wirklich stand. Ich war schon über dreißig, ging es mir durch den Kopf. So ein junger Mann würde sich wohl kaum ernsthaft für mich interessieren.
Buchheim beförderte mich, einer Marionette gleich, an den starrenden Gästen vorbei, bis an das Grab heran. Je näher ich der Urne kam, desto schäbiger fühlte ich mich. Mein Traum fiel mir wieder ein, mitsamt dem Gefühl, ihn gestoßen zu haben. Erschreckend, wie klein Jens geworden war. Unglaublich, dass er , der Lange, Schlaksige, nun in dieses winzige Gefäß passte. Sie hoben die Urne in die geöffnete Erde. Von meinen schlechten Erinnerungen, den miserablen Zukunftsvisionen und diesen Kopfschmerzen nahmen sie nichts.
Auch Marc holten sie nach vorne. So standen wir beide nebeneinander vor dem blumengeschmückten Grab und nahmen warme Taschentücher aus fremden Hosentaschen an. Vor uns baute sich kein Pastor auf, sondern Buchheim, der feierlich von Jens' Abschied sprach. Ich wollte seine Worte nicht hören, versuchte, sie an mir vorbeiziehen zu lassen, indem ich an etwas anderes dachte. An meine Arbeit, die sich inzwischen auf meinem Schreibtisch in der Firma türmte oder an Alexander, der mich immer wieder beobachtete. Es gelang mir nicht ganz, mich abzulenken. Ständig glitten meine Gedanken zu Jens zurück und ich bekam unfreiwillig Bruchstücke von Sätzen oder einzelne Wörter der Rede mit. Wörter wie … unser lieber Freund Jens … persönliches Ziel erreicht … Tod doch nichts Grausames …
Während ich mit meinen Tränen kämpfte, bemerkte ich hinter mir ein paar heitere Stimmen, vereinzelt gar ein verhaltenes Gespräch und leises Lachen. Unmöglich! Es fiel mir erst jetzt auf. Einige der fremden Gäste zeigten geradezu eine Unbekümmertheit, jedenfalls nicht das, was ich unter Trauer verstand. Nun ja, Freunde waren sie eben doch nicht gewesen. Marc dagegen bemerkte von all dem nichts und vergoss neben mir mehr Tränen als ich. Als ich seine verschwitzte Hand ergreifen wollte, zog er sie weg.
Nach der Beerdigung fühlte ich mich nicht deutlich besser, aber ich dachte, das geschlossene Grab gäbe mir die Möglichkeit zu verdrängen. Ich setzte mich
Weitere Kostenlose Bücher