Notizen einer Verlorenen
tupfte übertrieben sorgfältig auf meinem Knie herum.
»Macht nichts!«
Ich wehrte ihn nicht ab, sondern beobachtete seine Hand, die fleißig tupfte. Eine Hand ohne Ehering und sein Gesicht, das belustigt dazu schmunzelte, als dachte er über etwas Verbotenes nach, während er mein Knie anfasste. Sein Pullover unter dem Sakko trug auch heute die Aufschrift ›Verloren‹ . Alexander und Jens – was, außer der Aufschrift auf ihren Kleidungsoberteilen und mein Interesse an ihnen, verband diese beiden Menschen?
»Kam Jens eigentlich schon lange hierher, in das … Haus der Verlorenen ?«
»Oh ja! Das heißt, nein! Ich komme schon länger hierher. Jens war sehr ehrgeizig … hat seinen Plan fast vollendet. Ein gutes Vorbild für uns alle!«
Alexander goss den restlichen Inhalt seines eigenen Glases in sich hinein, wischte sich mit dem Ärmel den Mund trocken, während er schon wieder nachzugießen versuchte. Abermals half ich ihm, seine Treffsicherheit zu erhöhen. Merkwürdig, dass mich seine Betrunkenheit nicht anwiderte, wie ich es sonst bei anderen empfand. Ich mag Betrunkene nicht. Sie stoßen mich ab. Er aber kam mir in diesem Moment vor, wie ein liebenswerter langjähriger Freund, dem man alles verzeiht, angefüllt mit nur einem oder zwei Tropfen zu viel.
»Aber Jens hat sich umgebracht«, sagte ich. »Das ist alles andere, als vorbildhaft. Das ist schrecklich!«
»Wieso schrecklich?« Alexander wurde unerwartet laut, wirbelte mit dem freien Arm umher, sodass er meine Stirn nur knapp verfehlte. »Das ist genial!«, rief er.
In diesem Moment verstummten die allgemeinen Gespräche im Raum. Wir bekamen Zuschauer, die ungeniert ihre Köpfe nach uns reckten. Fast war es mir peinlich, obwohl nicht ich der Betrunkene war, sondern er. »Genial!«, wiederholte Alexander mehr für sich selbst.
Nun ging alles sehr schnell. Angeführt von Buchheim, schälten sich drei ernste Herren aus dem gaffenden Volk heraus. Zwei von ihnen griffen Alexander stumm unter die Achseln, nach einem rückversichernden Blick zu Buchheim. Sie zogen an Alexander, doch mein junger Charmeur befreite seine Arme aus ihren Fängen und stemmte sich bei ihrem nächsten Versuch mit aller Kraft gegen seine Widersacher. So ging das Spiel zwischen den Männern wortlos und eher halbherzig ein paar Mal hin und her. Einmal traf Alexander mehr aus Versehen einen seiner Gegenspieler mit dem Ellenbogen an der Nase, sodass der sich schmerzverzerrt mit einer Hand ins Gesicht fasste. Scheinbar fühlte sich der Mann nun herausgefordert, endlich härter durchzugreifen. Nicht nur ich blickte erwartungsvoll auf die Nase des Mannes, als er sie im Handgemenge wieder losließ, doch zu meiner und aller Enttäuschung sah man eigentlich nichts, außer einem leicht geröteten Zinken.
»Ist doch wahr!«, lallte Alexander, keuchend vor Anstrengung. »Jens war besser, als alle diese Blender, die sich seit Jahren an ihren Plänen hochziehen und nichts davon wirklich durchziehen. Die planen und planen …«
Seine letzten Worte verhallten schon aufgrund der Entfernung, in die er nun nachdrücklich gezogen wurde, besonders dank des Nasegepeinigten. Von weiter hinten, wo man sie nicht mehr sehen konnte, hörte man den dumpfen Ton einer zuschlagenden Tür und dann nichts mehr. Buchheim blieb stehen und sah ihnen nach. Er selbst hatte sich nicht die Hände beschmutzt, um Alexander aus meinem Sichtbereich zu entfernen.
»Der Junge trinkt gern zu viel, verträgt aber nichts. Es war auch sicher alles etwas zu viel für ihn.«
»Deshalb hätten Sie ihn nicht fortbringen müssen. Mich hat er nicht gestört.«
Zu meinem Unmut ließ sich der grauhaarige Vereinsführer, der mich immer mehr an einen alten Silberrücken erinnerte, nun auch neben mir auf der Couch nieder. Genau dort, wo zuvor Alexander gesessen hatte und er berührte mich ebenso beharrlich wie er. Angewidert wand ich mich, doch Buchheim blieb so aufdringlich sitzen und musterte mich schamlos aus allernächster Nähe. Seine Hand legte er vertraulich auf meinem Oberschenkel ab.
»Ich hoffe, unsere bescheidene Trauerfeier hat ansonsten ihrer Erwartung entsprochen?«
»Sicher«, ich wand mich noch immer. »Sie war gut organisiert und … nett.«
»Nett?«
Er ließ seinen Blick wie einen Scanner über meinen Körper gleiten und mir war, als zöge er mich auf diese Weise geradezu aus. Sein anderer Arm ruhte inzwischen hinter meinem Kopf über der Lehne des Sofas.
»Wie stellen Sie sich denn eigentlich Ihre eigene
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