Notizen einer Verlorenen
Lebens. Erst mit dem Tod wird das Leben vollständig.«
»Du gestattest mir aber dennoch, dass ich trauere und mich schäbig fühle?«
Er schwieg.
Als die Bedienung kam, bezahlte er für mich mit, obwohl ich es nicht wollte. Er tat es, als ich noch nach der Geldbörse in meiner Handtasche fahndete und sie nicht so schnell zu fassen bekam. Dann half er mir in die Jacke. Auch das wollte ich nicht wirklich.
Wortlos und berührungslos gingen wir den Weg zu meinem Wagen zurück. Einen der wichtigsten Wege aus meiner Kindheit und Jugend, am Haus meiner Schulfreundin in der Breslauer Straße vorbei, durch die Kölner, vorüber am Kiosk, wo ich meine ersten Zigaretten erschlichen hatte, und über die geschäftige Berliner Straße. Graue Straßen, ohne viel Grün, nur mit ein paar bepinkelten Bäumen. Ich fühlte mich zwiespältig. Einerseits war ich geistig noch immer hier zuhause, andererseits hasste ich diese Gegend, weil sie mich an eine heimliche Jugend erinnerte. Dort stand das Haus meiner einzigen Freundin – daran war ich vorbei geschlichen, damit sie nicht merkte, wenn ich von Manuel kam. Derselbe Kiosk – aber die peinliche Frage nach Kondomen. Die Berliner Straße – gesehen durch einen Film von Tränen, nach einem schmutzigen Nachmittag in Manuels Wohnung. Meine Trauer, als ich spürte, dass er mich nicht liebte.
Die Vergangenheit ging mit uns. Ich schritt mitten durch sie hindurch und nahm gleichzeitig die Gegenwart wahr. Derselbe Weg, nur eine andere Zeit. Mir kam es vor, als ginge Alexander mit mir durch beide Zeiten und ich versuchte, in dieser Empfindsamkeit für das Leben, in diesem Gespür für die Existenzen, die Zukunft genauso zu fühlen, doch sie war nicht da. Ich sah mich nicht mit Alexander diesen Weg noch einmal gehen. Ich sah mich überhaupt nicht wieder hier entlang laufen. Es war ein Weg, der mir das traurige Gefühl gab, ihn ein allerletztes Mal zu gehen, und ich fühlte mich einsam mit dem Gedanken daran.
Fest umklammerte ich den Riemen meiner Handtasche, er vergrub seine Hände in die Jackentaschen. Dabei hätte ich in meiner plötzlichen Traurigkeit eine Umarmung gebraucht, einen Menschen zum Anlehnen. Aber das wollte ich ja auch nicht – mich verletzlich zeigen.
An meinem Wagen angelangt reichte ich Alexander eine weit ausgestreckte Hand, um mich nicht in Versuchung zu bringen, ihm heulend um den Hals zu fallen; als könnte er meine unvollkommene Vergangenheit bereinigen und unbekümmert mit mir weiterleben.
Doch Alexander nahm mehr. Er griff nach mir und nahm den ganzen Arm, zog mich näher, bis dicht an seinen Bauch heran, zwischen uns kaum mehr als die Jacken. Die Fastberührung seiner Haut, der eben noch wahrzunehmende Duft seines Körpers und die Entschlossenheit in seinem Griff, lösten in mir ein Zittern und Klopfen bis in die Schläfen aus. Alexanders langer Blick in meine Augen und sein tiefer Atem bannten mich so sehr. Hätte er mich jetzt geküsst, ich hätte es geschehen lassen, allen Vorsätzen zum Trotz.
»Bis Sonntag«, sprachen seine nahen Lippen und ich roch, wie sich der ausgeatmete Lumumba mit meinem Atem zwischen uns vermischte. Alle Geräusche um uns herum verschwanden in weite Ferne.
»Bis Sonntag«, hörte ich mich durch meinen Kopfnebel flüstern.
Dann ließ er mich los. Er fasste sich aufs Herz, schickte mir einen körperlosen Kuss von seiner Hand durch die kalte Großstadtluft und ging – und ich fühlte mich betrunken und allein gelassen, aber auch geachtet von einem Mann, der eben nicht gleich alles nehmen wollte, was er von mir hätte bekommen können.
Von da an träumte ich von Alexander. Diese Träume waren hundertmal besser, als die von Jens oder Manuel. Ich musste es mir eingestehen – ich war heimlich verliebt. In einen jungen Mann, den ich kaum kannte, dessen Vergangenheit ich nicht wissen wollte und dessen Zukunft mir Angst machte. Es war völlig unsinnig! Ich wusste das und konnte doch nichts daran ändern. Bis Sonntag konnte ich es kaum erwarten. Ich wollte ihn wiedersehen. Auch war da noch etwas offen, was geschlossen werden musste. Der Lebensabschnitt Jens musste aufgeräumt und fest versperrt werden, damit ich frei wurde für Neues. Ich brauchte das, was ich im Moment nicht mehr vor mir sah – ich brauchte Zukunft, Aussicht, ich brauchte Hoffnung.
Einzig der Gedanke an Jens' Ende dämpfte mein Verlangen, Alexander zu treffen. Jens und dieser Verein, das war keine besonders gute Kombination gewesen. Doch was mit ihm geschehen war,
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