Notizen einer Verlorenen
einfach vergessen durfte. Warum war ich nicht ganz aus dieser Stadt geflohen? Sofort verspürte ich einen zunehmenden Schmerz im Unterleib, der in einem Stechen gipfelte. Der Mann auf der anderen Straßenseite bewegte jetzt seinen Kopf, als hätte er mich gerade erst erspäht.
Wie ertappt, wandte ich rasch meine Augen von ihm ab und griff hektisch nach dem Haustürschlüssel in meiner Jackentasche. Vielleicht hatte er mich ja nicht erkannt? Meine Finger zitterten bei dem Versuch, das Schlüsselloch zu treffen.
Als es mir endlich gelang, fasste mir jemand von hinten auf die Schulter. Ich zuckte abermals zusammen und ließ den Schlüssel fallen. Ein Schwall von Säure durchflutete meinen Magen.
»Ich wollte dir nur sagen, dass es mir leidtut.«
Verwundert wagte ich einen Blick in das Gesicht neben mir. Diese Stimme passte nicht zu meinem Angstbild.
Es war Marc. Marc, der mich ab da an zu quatschte und von mir und Alex sprach. Ich bückte mich nach dem Schlüssel und blickte mich noch einmal um. Manuel war verschwunden.
Marc folgte meinem Blick. »Ist was?«, fragte er.
Ich schüttelte den Kopf. Nirgendwo war auch nur ein Schatten von Manuel zu sehen. Mein Kopf machte mir Angst.
Sicher wunderte sich Marc, dass ich ihn so spontan in meine vernachlässigte Wohnung einlud. Ich war einfach nur froh, dass er mich begleitete und hoffte, dass er mich vor meinen eigenen Trugbildern schützte. Er setzte sich mit etwas angewiderter Miene auf den einzigen freien Platz meines Sofas, schob die ungewaschenen Kleidungsstücke auf dem Teppich vor ihm mit dem Fuß zur Seite und hörte zu, wie ich ihm von der Scheune erzählte.
Die Scheune
Die Holztür zur Scheune war nur angelehnt. Vielleicht war sie schon seit Alex' Unfall vor drei Wochen nicht mehr verschlossen. Ich war mit dem Zug angereist und den Rest mit einem Rucksack gewandert, in einer Art Pilgerreise bis zu Alex' Gedenkstätte. Autofahren in meinem Zustand war unmöglich. Aus meiner Hosentasche zog ich eine Taschenlampe und stemmte die Tür nur so viel auf, dass ich eben hindurchschlüpfen konnte. Alles war noch immer an seinem Platz: das Windrad, der Haken, auch der Ofen, der wieder oben hing. Ich ging näher und blieb ein paar Schritte vor der Leiter zur Zwischendecke stehen. Es war so, wie Franziska erzählt hatte. Die dritte Sprosse von oben war zusätzlich zu der bereits fehlenden siebten Sprosse herausgebrochen. Holzreste davon lagen noch unten am Stand der Leiter. Hier musste Alex gelegen haben. Um die Stelle, auf die er gefallen war, genau zu lokalisieren, stieg ich mit meinem Rucksack vorsichtig die Leiter hoch. Über der herausgebrochenen Sprosse hielt ich inne und blickte nach unten. Alex selbst hatte sicher nicht nach unten gesehen, sondern nach oben oder geradeaus.
Vielleicht hatte er auch etwas in Händen gehalten und war somit nicht einmal in der Lage gewesen, sich beim Einbrechen der Leiter festzuhalten. Ich ahmte seine mutmaßliche Stellung auf der Leiter nach, um mir vorzustellen, wie es ihm ergangen war. Rückwärts musste er gestürzt sein, direkt auf den Rücken, da er ja nicht nach unten geblickt hatte. Mit einem Satz sprang ich rückwärts ab. Dabei setzte ich in Hockstellung auf, aus der heraus ich sofort nach hinten kippte. Auf dem Rücken liegend, auf dem Hügel meines weichen Gepäcks, starrte ich an die Decke der Scheune. Möglicherweise hatte Alex sogar nach Hilfe geschrien, jedoch nicht aufstehen können. Wie lange musste er hier unter Qualen gelegen haben, bis ihn jede Hoffnung auf Rettung verlassen und Franziska ihn gefunden und ins Krankenhaus gebracht hatte? Ich wälzte mich auf die Seite und stand auf. Um die Leiter herum suchte ich nach Spuren des Unfalls, doch ich entdeckte nichts, außer meine eigenen Spuren im Dreck des Scheunenbodens.
Die komplette Ausrüstung seines Kunstwerks war noch vorhanden. Langsam schritt ich die einzelnen Stationen seiner Maschine ab. Sein verrücktes Hirn hatte sie erfunden, angelehnt an einer Reihe von Comics. Ein extremes Spiel, aus dem Ernst hatte werden sollen.
Ich blieb über Nacht in Alex' Scheune. Ich tat es, weil ich so lange wie möglich an dem Ort bleiben wollte, an dem er die letzten lebenden Stunden verbracht hatte. Und um mir über meine eigene Zukunft klar zu werden, die immer noch wie ein undurchsichtiger Nebel vor meinen Augen waberte.
Diese Nacht sollte über mein Schicksal entscheiden und sie wurde sehr lang für mich. Meine Gedanken ließen mich nicht ruhen; sie durchwühlten
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