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Notizen einer Verlorenen

Notizen einer Verlorenen

Titel: Notizen einer Verlorenen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Heike Vullriede
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irgendwann mit.

Silvester auf einem Marktplatz

    Wie nahezu jedes Jahr fiel Silvester der erste Schnee und die Straßen glänzten vor Glatteis. Wir alle hatten uns im Haus der Verlorenen eingefunden, um an diesem Tag nicht nur das neue Jahr zu verabschieden, sondern auch Rolf Lenger. Ihm zu Ehren wollten wir an diesem Abend ein besonderes Fest geben.
    »Sagt mal, hat einer von euch schon etwas über Leo und Mathilde gehört?«, fragte Franziska.
    Wir zuckten die Schultern. Niemand war über den Stand der Lage informiert.
    »Wäre es möglich, dass die beiden noch nicht gefunden wurden?«
    Diese Befürchtung sprach Larissa aus und es war das, was wir alle inzwischen dachten. Aber niemand wollte sich verdächtig machen, indem er zu dem Wohnwagen fuhr, um zu sehen, ob sie immer noch in ihren Betten lagen. Mir wurde bei diesem Gedanken fast schlecht.
    »Vielleicht hat es bloß nicht geklappt und sie sitzen jetzt vorm Fernseher und halten Händchen«, sagte Marc und wir wollten es glauben, auch wenn es unwahrscheinlich war, dass sie sich in diesem Fall bis heute nicht gemeldet hatten.
    Lenger war sehr aufgeregt. Immer wieder wischte er sich mit einem Taschentuch seine Stirn trocken. Ich konnte ihn verstehen. Hätte ich vorgehabt, mich mit vier Sprengkörpern selbst in die Luft zu sprengen, hätte ich auch geschwitzt. Franziska überreichte ihm unser Geschenk. Mit schelmisch geheimnisvollem Lächeln zauberte sie hinter ihrem Rücken ein flaches quadratisches Präsent hervor. Lenger war überwältigt, noch bevor er es auspackte. Zu Tränen gerührt und zitternd öffnete er die rot glänzende Verpackung und hielt das Quadrat schließlich entzückt in die Höhe.
    »Das ist wirklich gut getroffen.«
    Es war sein Porträt, welches ab morgen seinen Platz neben Kevin und seinen Freunden haben sollte. Darauf sah er gut aus, vor allem nicht so kalkweiß, wie heute. Während ich bei Leo und Mathilde mein schlechtes Gewissen verdrängte, plagte es mich bei Lenger um so heftiger. Ein Mensch, der seinem Leben willig ein Ende bereiten wollte, konnte doch nicht so elend aussehen. Ich wusste, es war meine Pflicht, ihn davon abzuhalten. Doch ich erfüllte diese Pflicht, wie so viele andere Pflichten in meinem Leben, nicht, sondern bildete mir ein, keine Gelegenheit zu haben, ihn alleine zu sprechen. Obwohl ich von seinem Plan, genau wie von Kevins Plan, seit Wochen wusste!
    Es war ein grauenhafter Silvesterabend. Lenger ging um halb elf. Er verabschiedete sich noch nicht einmal besonders überschwänglich und indes wir um Mitternacht den Geist des alten Jahres mit lautem Knallen verjagten, zerriss auf einem nahegelegenen Marktplatz in der Stadt der schmale Körper eines mutigen Mannes, den ich vielleicht hätte retten können. Noch am frühen Morgen des Neujahrtages brachte das Fernsehen die Nachricht von Lengers Selbstmord. Alex und Marc hingen sein Bild an der Galerie des Hauses auf. Das Bild eines stillen lächelnden Mannes mit großen Sorgen.
    Ich überredete Alex in der Nacht, mit mir zu diesem Marktplatz zu gehen. Warum es mich dort hinzog, wusste ich nicht. Es war eigentlich gar nicht meine Art, mich solchen Herausforderungen zu stellen, aber wir waren nicht die einzigen Schaulustigen. Der Platz sah sehr verwüstet aus, die Leiche war weggeräumt. In einem größeren Umkreis war noch immer alles abgezäunt, sodass niemand an das Zentrum der Opferstätte herankam. Ich schritt mehrfach um die Absperrung herum, suchte sinnlos nach Spuren von Lenger, der Stunden zuvor noch bei uns zu Abend gegessen hatte. Alex ermahnte mich, mich nicht so auffällig zu benehmen. Tatsächlich sprach mich jemand an. Doch es war kein Polizist, wie ich zunächst fürchtete. Es war ein Journalist, genau wie ich auf Spurensuche. Hastig zog Alex mich fort. Er legte den Arm um meine zitternde Schulter und schlug mit mir den Heimweg an. Niedergeschlagen ging ich mit, hielt aber an einem Baum, um meine Jacke zu schließen.
    »Lenger hat sicher nichts gespürt. Dafür ging es viel zu schnell«, sagte Alex.
    »Woher willst du das wissen?«
    Ich ärgerte mich über seine Behauptung. Nichts schien mir im Moment schlimmer, als das Geschehene herunterzuspielen. Um einem beschwichtigenden Kuss auszuweichen, neigte ich meinen Kopf zur Seite. Da sah ich es. Es glänzte leicht im Licht einer Straßenlaterne am Rande des Marktplatzes. Was da am Boden lag, sah so seltsam aus, so ähnlich wie ein kleines überfahrenes Tier ohne Fell. Sofort merkte ich, dass da etwas nicht

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